Acta fabula
ISSN 2115-8037

2024
Juillet 2024 (volume 25, numéro 7)
Rudolf Münz

« Theatralität und Theater. Konzeptionelle Erwägungen zum Forschungsprojekt “Theatergeschichte”»

[Traduction de Corentin Jan]

I

1Die Theaterhistoriker der DDR haben bekanntlich den Auftrag (vom Kongreß des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR) und damit die Aufgabe, eine Geschichte des Theaters zu schreiben. [Der Zeitplan sieht dafür die Jahre 1990 als Vorbereitungsphase, die Jahre 1991 bis 1995 als die eigentliche Produktionsphase vor.]

2Der gegenwärtige theaterhistoriographische, theoretisch-methodische Stand der Dinge – von allen anderen Schwierigkeiten abgesehen – ist der, daß man sich in vielem annähernd einig ist, wie dies nicht zu machen ist; in Bezug auf die Frage, wie es gemacht werden kann und soll, herrscht alles andere als Klarheit.

3Relative Einigkeit besteht einerseits darüber, daß – soll die Darstellung wissenschaftlichen Ansprüchen der Jahrtausendwende genügen – nicht in Frage kommt

  • eine positivistische, chronologisch-lineare, beschreibende Darstellung im Sinne einer „Leistungsgeschichte auf Werkbasis“1; die methodische Begründung dafür liegt vor2;

  • eine auch nur annähernd vollständige Darstellung im biographisch-monographischen Sinne des geschichtlichen Verlaufs;

  • eine für alle historischen Epochen / Perioden methodisch gleiche Verfahrensweise:

  • ein simples „Supplement“ zur allgemeinen Geschichte, zur Kulturgeschichte oder zu den Geschichten anderer Künste.

4Relative Einigkeit besteht andererseits über die Notwendigkeit

  • komplexe Entwicklungsprozesse und historisch entscheidende Funktionswechsel von Theater „an sich“ im Gesamtverlauf zu erfassen und darzustellen, oder anders ausgedrückt statt der Geschichte des deutschen Nationaltheaters die Nationalgeschichte des deutschen Theaters zu schreiben, wobei einerseits die Relationen zu je weltbestimmenden Theater zu beachten sind, andererseits – wo es nur irgendwie geht – Beispiele / Modelle unseres Territoriums berücksichtigt werden sollen;

  • dem welthistorischen Ereignis des Auftretens von Proletariat, Arbeiterbewegung und Sozialismus absolut Rechnung zu tragen, weshalb z.B. etwa die Mitte des 19. Jahrhunderts zum bestimmenden Ausgangspunkt genommen wird, und zwar nicht nur nach „vorn“, sondern auch nach „hinten“, und das Theater der DDR das gedankliche Zentrum bildet;

  • Erkenntnismethoden mit hohem Abstraktionsgrad anzuwenden;

  • der Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, die nicht nur im unbefriedigenden / katastrophalen Stand der empirisch gewonnen Materialkenntnisse in unserem eigentlichen Bereich liegen (vgl. den erheblichen Rückstand gegenüber allen anderen Kunstwissenschaften), sondern vor allem auch in der erforderlichen Anwendung / Umbewertung von „Nachbarwissen“ etwa zu Fest, Karneval, Utopie, Lachkultur etc.) – also zu Phänomenen, die nicht Gegenstand nur einer Wissenschaftsdisziplin sind.

5Der derzeitige Stand der Gesamtkonzeption veranschlagt die zu produzierende Theatergeschichte auf 7 Teile / Bände / Bücher, von denen die ersten drei der vor- und frühkapitalistischen Theaterkultur vorbehalten sein sollen, der vierte dem Theater der Zeit des reifen Kapitalismus, des Imperialismus und des entstehenden Sozialismus und der fünfte dem Theater der DDR. Ein sechster Teil / Band soll die Territorial-Gesamtgeschichte(n) der DDR-Theater enthalten und der siebente eine simple, übersichtliche Chronologie des Gesamtverlaufs. Offen ist z.Z. noch die Frage nach der speziellen Berücksichtigung der Gattungen des Theaters sowie die nach einer besonderen Darstellung des Theaters in den anderen deutschsprachigen Ländern.

6Im folgenden seien einige konzeptionelle Erwägungen zu den Sachverhalten der ersten drei Teile / Bände angestellt.

II

7Die Aufteilung des entsprechenden Stoffgebietes in drei Teile geht aus und entspricht dem

8dreifachen, prinzipiellen, strukturellen theoretisch-methodischen Ansatz für Theatralität und Theater als gesellschaftlichen Phänomenen.

9Bei der (interdisziplinär verbreiteten) Verwendung des Theatralitätsbegriffs ist nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung zu beachten, daß – abgesehen von einem metaphorisch-feuilletonistischen Gebrauch –

  1. sein eigentliches Anwendungsgebiet die Selbstdarstellung im Alltag sowie die Kultur der Riten, Feste und Feiern ist,

  2. korrespondierend damit eine spezielle Anwendung innerhalb der Theaterhistoriographie erfolgt.

10In jedem Falle ist die historisierende Beachtung des Phänomens der théa mit ihrer Funktion der ostentazione erforderlich, ohne die der Begriff Theatralität sinnlos und überflüssig ist. Während Spiel und Fest zu den kulturschöpferischen „anthropologischen Universalien“ zählen, gewinnt erst mit den wachsenden Bevölkerungszahlen in den entstehenden Städten (und der nicht oder nicht mehr möglichen umfassenden Bedürfnisbefriedigung) das an Bedeutung, „was man auf griechisch schlicht die ‚Schau‘ nennt, théa; befreundete Städte und Heiligtümer schicken einander gegenseitig Gesandte, die ‚Schau‘ mitzumachen; sie heißengriechisch ‚Wahrer der Schau‘, theoroi, ihre Tätigkeit ist theoria. Paradoxerweise kommen als Wort und Begriff der ‚Theorie‘ von der Festkultur der Antike her, und wenn die Philosophie dies ins eigentlich ‚Theoretische‘ erhob, so darum, weil ihr die abstrahierende ‚Schau‘ des Denkens als etwas Festlich-Beglückendes erschien“3. Für den griechischen Durchschnittsbürger gab es im wesentlichen drei Arten der „Schau“: die Prozession (pompé), den sportlichen Wettkampf (agon) und die Tänze mit Lied und Musikbegleitung (choroi), wobei man sich auf selbst den archaischsten Spielen und Festen innewohnende symbolisch-ostentative Elemente stützen konnte, aber die ursprüngliche Einheit (kosmischer) Lachkultur aufgeben mußte (Trennung von Heilig und Profan, Komisch und Tragisch, Geist und Köper u.a.m.). Und diese „Schau“ ist „dann von einer neuen Erfindung gleichsam gestohlen (worden), von den ‚Bocksängern“, tragodoi“4, der dann ein spezielles architektonischen Gebilde vorbehalten blieb: das Theater. Selbstverständlich ist bei allem der interaktionistisch-kommunikative Charakter – vermittelt vornehmlich über den (biologischen und sozialen) Körper –, und der eben war gesellschaftlich zu steuern. Prozession, Wettkampf, Tänze und Rollenspiel erweisen dies deutlich. Agora, Tempel, Stadion und Theater gehören so gesehen notwendigerweise und auf engste zusammen, und zwar generell und nicht nur in der Antike. Der historische Schritt zu „theatron“ oder die „Erfindung des Theaters“ über die „ostentazione“ (= Zur-Schau-Stellen, aber auch Prahlerei, Heuchelei) bedeutete, von (über Symbole vermittelten) „Realwerten“ der archaischen Spiel-, Fest- und Lachkultur weg, zu bloß mehr „Schauwerten“ hin zu gelangen, d.h. zur „Kunst“ – paradoxerweise für Theater verbreitet nur denkbar als Synthese anderer Künste unter weitgehendem Ausschluß der eigentlichen Grundlage, des „Körpers“. Die diesbezüglichen Auseinandersetzungen bestimmen prinzipiell die Geschichte des Theaters und haben zu einer außergewöhnlichen Vielfalt unterschiedlicher Phänomene geführt, oft in unmittelbarstem Nebeneinander befindlich.

11Um diese Vielfalt analysieren und bewerten zu können, unterscheidet die neuere Theaterhistoriographie strukturelle Typen von Theater, die begrifflich schwer zu kennzeichnen sind. Als Grundtypen sind anzusehen
Theater und „Theater“,
wobei unter Theater – sehr verkürzt – wie auch immer geartete („reine“) Theaterkunst im weitesten Sinne verstanden wird, unter „Theater“ ein bestimmtes Verhalten des / der Menschen im außerkünstlerischen Bereich: Selbstdarstellung im Alltag (Gebaren, Kleidung, Schminken usw.), soziales Rollenspiel, Veranstaltungsverhalten (bei Zeremonien, Paraden, Versammlungen usw.), Elemente der Alltagsunterhaltung.

12Im Verlaufe der (mindestens Feudal-) Geschichte bestand zwischen beiden Erscheinungen ein enges Wechselverhältnis bei Vorgabe, nichts miteinander zu tun zu haben. Dieses Wechselverhältnis war überwiegend sozial bestimmt und muß im Zusammenhang mit dem großen Programm der persönlichkeits-Identität gesehen werden.

13Bei beiden Phänomenen herrschte jahrhundertelang eine starke Tendenz zu Normierungen entsprechenden Verhaltens vor; das Haupturteilskriterium dafür bildete die Natur. „Fehlverhalten“ war gleich „unnatürlich“, war „theatralisch“ (Verstellung, Heuchelei, Täuschung) = negativ. Die Geschichte kennt zwei wesentliche Reaktionen darauf:

  1. die generelle Ablehnung jegliche „Theaterei“ (als Kunst ebenso wie im Alltag) und Lobpreisung der Zeiten von Nicht-Theater mit dem Ideal der Identitäts-Realisierung,

  2. die Konzipierung eines Strukturtypus von ‚Theater‘, der Theater und „Theater“ bewußt entgegensteht, der das „Theatralische“ beider kritisch durchleuchtet, „ent-larvt“, wozu er sich überwiegende der Maske bedient (= seine destruktive Seite) und wozu er historische Rückgriffe vornimmt auf „vortheatralische“ Verhältnisse „goldener Zeitalter“ (= seine konstruktive Seite). Dieses ‚Theater‘ gibt sich betont und bewußt „unnatürlich“, d.h. supra-artifiziell; sein Hauptrepräsentant, Harlekin, hatte „kein Vorbild in der Natur“, avancierte aber zum „Genius des Lebens“.

14Nicht-Theater + „Theater“ + Theater + ‚Theater‘
=
Theatralität einer Epoche

15Theatralität in diesem Sinne drückt ein Verhältnis aus, kein Verhalten, und ist zunächst wertfrei zu sehen; sie bezeichnet die historisch veränderliche, dynamische Relation von Theater und „Theater“; sie ist ein System, dessen Elemente ständig ineinander greifen oder korrespondierend nebeneinander bestehen; man darf sie nur aus Gründen der Analyse isoliert betrachten. Theatralität so gesehen – in gewissem Unterschied zur Verwendung des Begriffs in anderen Sozialwissenschaften – ist eigentlich der „Leitfaden“ durch die Geschichte.

16Da gegenwärtig kaum Theater hinreichend erforscht ist, geschweige denn „Theater“, ist die Anwendung des methodischen Prinzips komplex kaum möglich. Deshalb wird eine „reine“ Darstellung der Strukturtypen in den ersten drei Teilen / Bänden als vorläufig im Sinne eines Grundrisses erwogen. Im Band Territorialgeschichte(n) wäre dies dann im Sinne einer Komplexdarstellung zu ändern, zumal sich „Theater“ vorwiegend lokal- und klassenbezogen äußerte, weshalb ihm u.a. das klassenharmonisierende Nationaltheater als höchster Ausdruck einer gesellschaftlichen Funktion von Theater entgegengesetzt wurde. Offene Fragen ergeben sich ferner in Hinsicht auf die Beachtung der diesbezüglichen großen Synthesen der Theatergeschichte, die sich überwiegend nicht auf dem Boden unseres heutigen Territoriums vollzogen und die überhaupt in den wenigsten Fällen deutsch waren.

171. Ein erster Ansatz für das Entstehen von (schamlos offener) Theatralität liegt in der gesellschaftlichen Notwendigkeit, daß bestimmte Individuen (als Schamanen, Priester, Fürsten, Herrscher) die urgemeinschaftliche, kollektive, undifferenzierte, symbiotische Einheitsbeziehung aufgeben und sich – als „Unbeteiligte“ – über die Sphäre der unmittelbaren materielle Produktion stellen, was sie zwingt, in der Realität eine „Rolle zu spielen“, d.h. etwas fiktiv darzustellen, was sie real nicht sind.5

18Dieses Mehr-Scheinen-als-Sein erfolgt (in der Regel) unbeschadet ihrer individuellen Fähigkeiten („Charaktereigenschaften“) in Bezug auf die Produktion, ist also nicht nur nicht persönlichkeitsbezogen, sondern erfordert vielmehr oft dämonische oder göttliche Vorgabe. Dies geschieht relativ offen (und öffentlich), ist körperbezogen; sinnlich, entsprechende „Kunstmittel“ sind zweckgerichtet (ornamental): Maskierung, Kostüm, körperliches Gebaren, kosmetische (sozial determinierte) Korrekturen des natürlichen Körpers u.a.m. Ein besonderes, noch zu klärenden Problem liegt in der Bestimmung des diesbezüglichen „Täuschungsgrades“ (der Rolle von Ideologie im Sinne von „falschem Bewußtsein“, Erzielung von Bewußtlosigkeit / Ekstase, Notwendigkeit von Religionen als „Opium“, relative Wortarmut und damit „Geistlosigkeit“ etc. etc.) und in der Bestimmung / Bewertung der sozialen Normen (Wertvorstellungen, Symboldeutungen, Bewegungsformen, Zeitbegriff usw.).

19Jedenfalls liegt hier ein, möglicherweise der Ansatz, der tendenziell zunehmend zu Theatralität der Repräsentation führt, und zwar im Leben und in der Kunst – was keinesfalls schlechthin und an sich als negativ zu begreifen ist; die diesbezüglichen Wechselbeziehungen sind dabei besonders aufschlußreich.

20Besonders zu beachtende Merkmale sind u.a.:

  • das Verhältnis zur Natur(beherrschung) ist ambivalent, bei nicht starkem Verhaftesein mit der „ersten Natur“ (primären Seinsweise, primärprozeßhaftem Erleben6);

  • die Genußbefriedigung für „alle“ ist noch real und komplex, unter Dominanz des Lustprinzips, wird aber tendenziell eingeschränkt / zeitlich begrenzt; die Gewährung von Genüssen an Produktive in Form von „Spenden“ der Nichtproduktiven kann als paradigmatisches Beispiel für diese Form von Theatralität gelten, zumal sie öffentlich vollzogen wird und zunehmend Schauwert erhält (vgl. die von diversen Obrigkeiten „gespendeten“ Riesen-Würste, Riesen-Backwerke);

  • das Verhältnis zu theatralischer Kunst (im engeren Sinne) ist u.a. dadurch geprägt, daß – nahezu genetisch –

  • Spiel nicht mehr, und zwar auf keinen Fall mehr, produktionsbezogen sein darf (im Sinne des Trainings gesellschaftlich-produktiver Fähigkeiten. Fertigkeiten), sondern „rein“ im zweifachen Sinne:

  1. als Turnier, Jagd, Reiterspiel, Tanz etc. zur Selbstdarstellung,

  2. als bloße „Unterhaltung“, einschließlich Artistik und „Gaukelei“, bei prinzipieller Umfunktionierung ehemals kommunikativer Mittel mit „doppeltem Boden“ (vgl. z.B. das Seiltanzen) –

21die entscheidende Weichstellung dafür erfolgt in unserem Kulturkreis bereits um die Mitte des 12. Jahrhunderts,

  • Theater als bewußtes (künstlerischen) Rollenspiel abgelehnt wird (vgl. z.B. die alten Kulturen des Nahen Ostens, aber auch die diversen „Mimen“);

  • wenn schon Theater statthat, dann solches mit großer, offener Theatralität (vgl. z.B. Theaterkulturen des Fernen Ostens);

  • der entsprechende Höhepunkt im „Welttheater“ gesehen wird

  1. im Sinne etwa Calderons und des Barocks allgemein

  2. im Sinne der Auffassung von der göttlichen Weltordnung als „Theater“ um zu verbergen

  3. etwa die „Theaterei“ während des Tridentiner Konzils oder des Wiener Kongresses.

22Das Entscheidende hierbei ist, daßkeine Kommunikation / soziale Verständigung über die zu verbergenden gesellschaftlichen Sachverhalte (Produktion – Aneignung – Verteilung) stattfindet. Die stilistischen Hauptausdrucksmittel sind deshalb Monologizität und Ernsthaftigkeit, worüber die relative Toleranz zum (sozialen) Lachen und die großzügige Integration des „Erbes“ unter der Voraussetzung prinzipieller Umfunktionierung (vgl. Karneval, Masken, bestimmte folkloristisch-mythische Elemente, absurderweise bis hin zu Darstellungen der „verkehrten Welt“) nicht hinwegtäuschen dürfen.

23Die sozial dominierende Bezogenheit ist klar feudal, adlig, aristokratisch.

24Ein Band – der zweite? – könnte diese Phänomene „rein“ darstellen – von der „Wiener Genesis“ etwa bis zu Calderons „Welttheater“, den Ludi Caesaraei und der Oper, wobei die relativ deutliche Unausgeprägtheit auf unserem heutigen Territorium (nicht zuletzt infolge der Reformation) nicht als „Manko“ negativ, sondern als „Tugend“ positiv zu bewerten wäre (vgl. etwa die Haltung Thomas Müntzers zu Theater und Theatralität, auch die von Hus, die der Täufer u.a.m.).

252. Ein zweiter Ansatz für das Entstehen von (verborgener) Theatralität muß (mit sehr großer Wahrscheinlichkeit) in der gesellschaftlichen Notwendigkeit gesehen werden, daß die Auseinandersetzung mit der Natur zur Beherrschung der Natur (= Produktivität) nur als Subjekt, Persönlichkeit (insomma) bewältigt werden kann, was zunächst nur als Programm, Ideal, Utopie, Ziel zu denken und zu behaupten ist.

26Dieses Mehr-Sein-als-Scheinen(-Wollen) ist in starkem Maße abhängig von individuellen Fähigkeiten („Charaktereigenschaften“); es ist persönlichkeits-, aber prinzipiell nicht körperbezogen, sondern „geistig“ orientiert; un-sinnlich (fern-sinnlich), verbal-sprachlich zentriert und ideologisch gebunden. Gerichtet tendenziell gegen 1., findet es dort – da ihm prinzipiell überlegen, weil produktivitätsbezogener – energetischsten Widerstand, der die hier immanent liegenden Elemente von (verborgener, verschleierter) Theatralität der Individuation noch verstärkt; sie liegen u.a.

  • in der Identitätsbehauptung der Persönlichkeit(en);

  • in der Internalisierung notwendiger Normen zur „Naturbeherrschung am Menschen“ und eben

  • in der notwendigen „List(igkeit)“ gegenüber den herrschenden, entgegenstehenden Mächten, um Produktivität überhaupt durchsetzen zu können,

27woraus erhellt, daß auch die Form von Theatralität – als Phänomen der Alltagsrealität und der Kunst – nicht an sich und von vornherein als negativ zu begreifen wäre.

28In noch stärkerem Maße als bei 1. liegt das besondere, noch zu klärende Problem in der Bestimmung des Täuschungsgrades“: Die offen ausgestellte und offensiv eingesetzte Maskierung äußerer Repräsentation und sozialen Rollenspiels von 1.bekämpfend (Maske, Kostüm, Schminke, Kosmetik, Verstellung etc.), versteckt man sich hier hinter verborgenen defensiven Masken, und zwar zunächst mehr hinter der „Sprachmaske“, dann mehr hinter der „Charaktermaske“. Von paradigmatischer Bedeutung ist die Lebensmaxime des Cartesius: „Gut gelebt hat, wer sich gut verborgen hielt.“7 Verbalsprache als Instrument (der Erkenntnis, der Wahrheitsvermittlung) und als Maske: Zwischen diesen Polen stellte sich hier ein aktivierendes Kraftfeld her, aus dem ganz eigenartige Glanzleistungen von theatraler „Darstellungskunst“ des Galilei in diesem Sinne.8 David Hume wandte sich gegen die zunehmend auch im wissenschaftlichen Bereich feststellbare flache Beredsamkeit:

Der Sieg wird nicht von den Bewaffneten gewonnen, die Spieß und Schwert führen, sondern von den Trompeten, Trommlern und Musikanten des Heeres.9

29Analyse und Begreifen der Anwendung theatraler Mittel in gedruckten wissenschaftlichen Texten – vom Dialog über Techniken der Ironie, der parodistischen Verkehrung bis zu bewußtem Wechselspiel von provozierender Offenheit und unantastbarer Verhüllung – und die entsprechende Haltung der Autoren ist für das Verständnis des hier konzipierten und einzig zugelassenen Theaters als Kunst unabdingbar.

30Besonders zu beachtende Merkmale sind hier u.a.

  • das Verhältnis zur Natur(beherrschung) ist eindeutig und einheitlich, gerichtet auf die „zweite Natur“ (sekundäre Seinsweise, sekundärprozeBhaftes Erleben);

  • die Genußbefriedigung für „alle“ unterliegt zwangsläufig der Dominanz des Realitätsprinzips (d.h. z.B. Aufschub unmittelbarer Befriedigung, Fähigkeit und Bereitschaft zu Negation und Einschränkung, Triebaufschub und Realitätsprüfung mit dem Korrelat der Differenzierung von Anspruch und Erfüllung); das sprach- und charaktermaskierte Ideal der Askese kann als paradigmatisches Beispiel dieser Form von Theatralität gelten;

  • das Verhältnis zu Theater als Kunst und zu Theatralität des Ansatzes 1. ist historisch – je nach ökonomischer und politischer Macht – sehr verschieden und unterliegt relativ großen Veränderungen; es ist geprägt z.B. durch

  • radikale Ablehnung bei dogmatisch bis terroristisch betriebener Verfolgung von Entgegenstehendem (feudal-höfisches Theater wie Volks- und Spezialitätentheater der Handwerker und Bauern);

  • Ersatz des „Rollenspiels“ durch „lebende Bilder“;

  • Tolerierung von Spiel nur zur bloßen Unterhaltung bzw. zur Reproduktion von Arbeitskraft bei absoluter Ausschaltung des „doppelten Bodens“, meist zugunsten raffinierter Technik (vgl. wiederum Seiltanz: Überquerung der Niagarafälle als artistische Höchstleistung);

  • Favorisierung der „Fernsinne“ und Diskreditierung der „Nahsinne“, Dichotomie der sog. unteren „sensiblen“ und oberen „intellegiblen“ Organe des Körpers (mit direkter Auswirkung auf Schauspieltheorie);

  • Ideal / Idol der Identität von Kunst und Natur.

31Das Entscheidende ist auch hier, daßkeine Kommunikation / soziale Verständigung über die zu verbergenden gesellschaftlichen Sachverhalte (Produktion – Aneignung – Verteilung) und die individuellen Grundfragen (Illusion der Ich-Identität, Problem des „Ich-Seins“ bei „Sich-Nicht-Haben“) stattfindet. Die stilistische Hauptausdrucksmittel sind deshalb auch hier prinzipiell – und noch ausgeprägter –
Monologizität und Ernsthaftigkeit, begleitet von
absoluter Lachfeindlichkeit und
Desinteresse am „Erbe“
worüber die typischen „Reformen“ (des sozialen Lachens zum individuellen Humorlächeln, des Karnevals zum Fasching, der Maske zur Charaktermaske, des überlieferten Theaters zum „Nationaltheaters“) nicht hinwegtäuschen dürfen.

32Die sozial dominierende Bezogenheit ist bürgerlich-kapitalistisch. Ein Band – der dritte? – könnte diese Phänomene relativ „rein“ darstellen – von den (rückläufig zu betrachtenden) Fastnachtsspielen bis zur Formierung großer bürgerliche Nationaltheater.

333. Drittens wird der Ansatz für das Entstehen von Theater in den diversen spielerischen Aktivitäten des Harlekin-Prinzips gesehen, die „mit der Welt“ gesetzt sind, die sich mit komplementärer Grundfunktion an Erzählungen / Deutungen der Ur(sprungs)-Mythen beteiligen (Trixter) und die dann „außerhalb der Welt“ bleiben in dem Maße, wie diese Welt real zur „verkehrten Welt“ (der Klassengesellschaften) wird.

34Ihr Nährboden und unabdingbar die Lachkultur, wobei Lachen als soziales Phänomen in doppelter Funktion wirksam wird:

  1. Lachen = Ausdruck des Menschlichen schlechthin; = lebensspendend und lebensfördernd (in der modernen Medizin wurde nachgewiesen, daß eine Minute Lachen 45 Minuten körperlicher Gymnastik / Bewegung entspricht) und damit „todesüberwindend“

  2. Lachen = Sichwehren des Körpers gegen seine „Vergeistigung“, Harlekin – als Topos – wird in diesem Sinne zum Genius des Lebens.

35Die Aktivitäten des Harlekin-Prinzips entfalten eine ambivalente Grundfunktion, die sich bezieht

  1. auf das Bewahren menschlicher Grundwerte (Bedürfnisse) in Übereinstimmung mit der Natur;

  2. auf das Transparentmachen bzw. auf die Komplementierung von Theatralität der Ansätze 1. und 2.,

36wobei Vorstellungen entwickelt werden von dem, was nicht oder noch nicht ist. Dies hat in der Theatergeschichte immer wieder zu Versuchen „großer Synthesen“ geführt, gekontert durch die Bestrebungen zu verschleiernden „Gesamtkunstwerken“ (im Sinne des Synkretismus verschiedener „ehrbarer“ Künste).

37Ihr (primärer) Zweck liegt in der sozialen, kollektiven Verständigung über eben solche menschliche Grund-, d.i. Lebensfragen, weshalb Kommunikation, Dialogizität die prägenden (sekundären) „Mittel“ sind, ausgedrückt durch körperbezogene Bewegung („an sich“), Verwandlungen, Non-Verbalität (als Ausdruck des besonderen Verhältnisses zur Sprache als Werkzeug geistiger Produktion und Instrument politischer Macht in der „verkehrten Welt“).

38Ihr eigentlicher „Ort“ ist das soziale Fest.

39Sie produzieren (in der Regel) keine Produkte (der „Kunst“, keine „Werke“), sondern Prozesse; der dabei offenbarte hohe Grand an arte, abilità, artificialità bezieht sich prinzipiell nicht auf Schauwert, sondern auf Realwert; die Veranstaltungen sind deshalb meist unmittelbar mit der Befriedigung realer Genüsse verbunden, d.h. sinnlich (nah-sinnlich), ohne daß freilich darin ihr Wesen zu sehen wäre.

40Ihre „Geschichte“ ist geprägt von einem nicht-linearen Verlauf, von durch starke Atavismen gekennzeichneter Diskontinuität, und ist bestimmend für (immanente) Bewegungsgesetze von Theater. Daß diese „Geschichte“ – trotz jahrhundertelanger Diskreditierung und Verfolgung – „ewig“ währt, findet den tiefsten Grund in der unersetzbaren Funktion derartiger Aktivitäten für Subjektgenese und Realisierung des Gattungswesens Mensch. Das meint:

41Mit der notwendigen Herausbildung der Sekundärprozesse (der „zweiten Natur“) verschwinden bekanntlich die Gegebenheiten der primären Seinsweise nicht automatisch, sondern werden – unter absoluter Dominanz der Sekundärprozesse – in den Hinter- oder Untergrund der Gesellschaft gedrängt. Nimmt man charakteristische Gegebenheiten, die ehemals dominant waren, mit der neuen Ordnung aber als unvereinbar erscheinen, z.B.

  • Objektungeschiedenheiten und Objekt / Subjektverschmelzungen,

  • Koexistenz von Gegensätzlichem,

  • Austauschbarkeit von Teil und Ganzem,

  • alogische, nicht hierarchisierte, nicht polarisierte Verknüpfungen,

  • Fehlen von Kategorisierungen,

  • Bildhaftigkeit des Erlebens,

  • beliebige Besetzbarkeit von Dingen und Vorstellungen mit imaginären Bedeutungen und affektiven Gehalten,

42so hat man wesentliche „Gegenstände“ dieser Veranstaltungen, wobei diese prinzipiell der Funktionalität, nicht der Substantialität unterliegen (was sich in der „Geistlosigkeit“ stupender Monotonie im Stofflichen äußert).

43Diese Prozesse sind notwendigerweise von intensiven Konflikten begleitet. Die emarginierte, durch das Lustprinzip regulierte primäre Seinsweise wirkt aus dem Hinter- und Untergrund subversiv auf die vom Realitätsprinzip beherrschte Ordnung der „zweiten Natur“ ein. Zwar dominiert sie nur noch im Unbewußten und kommt zu relativ freier Entfaltung nur noch im sogenannten alternativen Bewußtseinszuständen wie Träumen, Phantasien, Visionen, Utopien etc., dennoch durchwirkt sie subversiv den gesamten Sekundärbereich, und zwar im Bereich des Imaginären. Dort aber nimmt sie – als höchste Form, den Status eines (verlorenen) „Paradieses“ an (das „Goldene Zeitalter“), der wesentlich verhaftet ist mit dem Körperlichen, Sinnlichen, Ur-Produktiven (und also alles andere ist als das „Idyll“ fauler „Schlaraffen“).

44Die nähere Bestimmung / Regulierung dieser Subversivität bildet hier das besondere Forschungsproblem; sie ist keinesfalls als nur destruktiv und negativ zu bewerten. Die besondere Bedeutung liegt darin, daß das Imaginäre für Werden und Entwicklung von Subjekt / Persönlichkeit eine sehr große Rolle spielt, ja als entscheiden angesehen werden muß. Die Entscheidende liegt vornehmlich in dem Phänomen,
sich etwas vorzustellen, was nicht ist
oder noch nicht ist
Daher ist es prinzipiell verfehlt, die Aktivitäten des Harlekin-Prinzips auf das Mimetische einengen zu wollen.

45Das Imaginäre durchdringt alle Lebensbereiche, hat seinen besonderen Ort aber im Spiel. Die Veranstaltungen des Harlekin-Prinzips spielen u.a. mit den Faktoren, in denen die Wurzeln des Imaginären angenommen werden, die zum Bewußtwerden und zur Internalisierung eines ersten Körperbildes führen, das als Grundlage des Selbstbildes = Menschenbildes angesehen werden muß, also z.B.

  • mit dem Blick,

  • mit der Kleidung (dem „Kostüm“)

  • mit dem Spiegelbild / der „Verkehrung“

  • mit der Maske

46Was in Ansatz 1. „gesetzt“ ist (die Gottesebenbildlichkeit des Menschen) und in Ansatz 2. begrifflich zu ersetzen versucht wird (der „Charakter“ als Summe begrifflicher Eigenschaften, anfangs abstrahiert von Tier-Vorstellungen, zunehmend aber ohne „Bild“), das wird hier ständig hinterfragt, um zur Verständigung zu kommen, wobei (notfalls) immer wieder auf Ausgegrenztes zurückgegriffen wird, z.B. auf den „zerstückelten Körper“ oder auf Bilder von losgelösten, verselbständigten Körperteilen, auf Verschmelzungen einzelner Körperteilen mit Naturobjekten etc. etc., d.h. auf Chimärisches und Groteskes, womit der „Lernprozeß“ der „Menschwerdung“ betont wird.

47Bedenkt man, daß nur so der Spielraum zwischen Mensch und Natur entsteht, den die Metapsychologie „intermediäres Feld“ nennt und der vermutlich der Ort ist, wo Kreativität entsteht, begreift man vielleicht die ganze Brisanz der Phänomene dieses Ansatzes. Er erfaßt eine Form von Theater – Kommunikation, Spiel, Dialogizität –, die „Theater bewußt entgegensteht und als Ideal das freie Spiel mit sich identischer Persönlichkeiten zur produktiven Realisierung des Gattungswesens braucht.

48Deshalb spricht manches dafür, den betreffenden Phänomenen – von der Entstehung der Klassengesellschaft bis zur bürgerlichen Revolution – den ersten Band zu widmen.