Acta fabula
ISSN 2115-8037

2024
Juillet 2024 (volume 25, numéro 7)
Michael Scheffel

« Der historische Ort des Begriffes »

[Traduction de Lukas Brock]

Die Arbeiten des Kunsthistorikers Franz Roh

1Wie in dem in der Einleitung zitierten Lexikonartikel von Otto F. Best angedeutet, gehört der erstmalige Gebrauch der Rede von einen “magischen Realismus” tatsächlich in das historische Umfeld der deutschen zwanziger Jahre. Er läßt sich genau datieren. Es ist der deutsche Kunsthistoriker Franz Roh, der den Begriff 1923 in einem Aufsatz über Bilder des Münchner Malers Karl Haider aus der Taufe hebt. Roh gibt hier zunächst einen kurzen Überblick über die vielgestaltige Kunst der noch jungen zwanziger Jahre und führt dann aus:

Eine Bewegung nun, die seit 1920 in allen europäischen Ländern hervorkeimt, sei Nachexpressionismus genannt, womit ich sagen will, daß sie gewisse metaphysische Bezüge des Expressionismus behält, diese andererseits aber zu etwas durchaus Neuem wandelt. Der Begriff des ‘magischen Realismus, der für die einsetzende Epoche ebenfalls angewandt werden kann, deutet das Neue an, verzichtet dafür aber auch auf den Ausdruck der Kontinuität.

2Was das Besondere dieser neu georteten “Bewegung” anbelangt, so glaubt Roh, die “Verbindung beinah all der Elemente, die dem entstehenden Nachexpressionismus (...) wichtig sind”, bereits in den Landschaftsbildern Karl Haiders ausmachen zu können. Im Zusammenhang mit einer Bildbeschreibung von Haiders Herbstlandschaft führt Roh als Charakteristika im einzelnen an:

Durchs Bildganze laufende Großform im Sinne einer fast geometri­schen Abstraktion. In diese aber nun einbezogen die reinste Gegenständlichkeit in minutiöser Zeichnung. Also jene Verschränkung des Riesigen und Winzigen, des Makro- und Mikrokosmos. Somit auch räumlich jenes ‘Neue: magische Begegnung der Vordergründigkeit, der Hauptgeländekeile mit dem Phänomen der Ferne als Kleinform, wieder im Sinn jenes magisch Simultanen. (...) Dazu als letztes: Nichts vom Zerreißen und Zertaumeln der Bilderscheinung des älteren Expressionismus. Sondern der Reiz des unerbittlich Gebannten, Festgelegten, der Versteinerung.

3Franz Roh bezieht den Terminus “magischer Realismus” damit auf eine bestimmte, den bis dahin stilprägenden Expressionismus ablösende “Bewegung” in der zeitgenössischen Malerei und verwendet ihn synonym zu “Nachexpressionismus” als Namen für eine zu Beginn der zwanziger Jahre neu “einsetzende Epoche”. Die Bilder des 1912 verstorbenen Karl Haider werden von ihm als deren Vorboten interpretiert. Sie scheinen ihm durch eine Reihe von spannungsvollen Widersprüchen charakterisiert: einem “magisch Simultanen” von “fast geometrischer Abstraktion”, “reinste(r) Gegenständlichkeit in minutiöser Zeichnung”, “Verschränkung (...) des Makro- und des Mikrokosmos”, verbunden mit einem insgesamt statischen Bildeindruck. Die Rolle des Malers selbst ist vor diesem Hintergrund neu gefaßt. Er wird für Roh zu einem

Zauberer, der uns geheime Bindung von Gegensätzen, die uns auseinanderfielen, lehrt (...). Ein Meister, der uns eine Sicht gibt, weit in die Ferne und — durch das Mikroskop. Der uns ins unendlich Große leitet und das Unendliche des Kleinsten in die Tafel zaubert. Der uns liebend ins Idyll führt und dennoch nicht verschweigt: auch hier wartet — als die Leere und das Nichts — der Tod.

4Tatsächlich also scheint der Begriff “magischer Realismus” bei Roh ursprünglich eine Form der realistischen Darstellung zu meinen, in der eine besondere Sicht der Welt zum Ausdruck kommt. Von dem in der Rolle eines “Zauberers” gesehenen Künstler soll hier im Prinzip Gegensätzliches “magisch” zu einer neuen — “Makro- und Mikrokosmos” umfassenden — Totalität zusammengebunden sein. [...]

5Zwei Jahre nach Erscheinen seines Haider-Aufsatzes stellt Roh eine um­fassende Darstellung der — so der Untertitel — “Probleme der neuesten europäischen Malerei” unter die programmatische Überschrift: Nachexpressionismus. Magischer Realismus. Wohl weil der Begriff hier erst­mals schlagwortartig in einem Buchtitel auftaucht, ist bislang immer die­sem Werk die Patenschaft für den Begriff zugeschrieben worden. Dieser Irrtum ist um so bedauerlicher, als Roh den Begriff jetzt unschärfer als in seinem Haider-Aufsatz gebraucht und ihm gegenüber sogar ein gewisses Desinteresse bekundet. So schreibt Roh im Vorwort seines Buches, daß er “auf den Titel magischer Realismus(...) keinen besonderen Wert” lege und fährt in fast entschuldigendem Tone fort:

Da das Kind einen wirklichen Namen haben mußte und Nachexpressionismus nur Abstammung und zeitliche Beziehung ausdrückt, fügten wir, nachdem das Buch längst geschrieben war, jenen zweiten hinzu. Er schien uns wenigstens treffender als ‘idealer Realismus‘ oder als Verismus und Neuklassizismus‘, welche ja nur einen Teil der Bewegung darstellen. Unter surréalisme‘ versteht man vorläufig etwas anderes.

6Die Verwendung des Begriffes wird also eher negativ, in einer Art Ausschlußverfahren begründet und als keineswegs zwingend vorgestellt. Was seine Konstruktion anbelangt, so beschränkt Roh sich auf die nicht allzu aufschlußreiche Feststellung, daß mit “magisch” im Gegensatz zu “mystisch” angedeutet sein sollte, “daß das Geheimnis nicht in die dargestellte Welt eingeht, sondern sich hinter ihr zurückhält.”

7In der folgenden Studie geht es dem Kunsthistoriker Franz Roh dann tatsächlich weniger um die Etablierung einer neuen Begrifflichkeit als um einen “eröffnenden Schritt”, eine erste Kontaktaufnahme und die Beschreibung eines Phänomens, das — darauf wird später zurückzukommen sein — auch von anderen Zeitgenossen notiert wird: die offensichtliche Ablösung des — so Rohs Datierung — seit etwa 1890 vorherrschenden Expressionismus durch einen neuen, ganz andere Schwerpunkte setzenden Stil. Trotz aller Skepsis Rohs gegenüber dem von ihm selbst geprägten Be­griff aber wurde seine Studie der nachexpressionistischen Malerei unter dem Titel “Magischer Realismus” bekannt. Der Vollständigkeit der Begriffsgeschichte halber sei also nachgezeichnet, welches “Kind” hier erstmals auf den später so oft verwendeten Namen getauft wurde. Und um besser darstellen zu können, wie der Kunsthistoriker das Wesen der “neuesten Malerei” zu fassen trachtet, seien auch andere Arbeiten Rohs zum gleichen Thema berücksichtigt. Für Roh gewinnt die neue, um 1920 eine “Wende” markierende Kunst ihr Profil im Vergleich mit ihrem Vorgänger, dem Expressionismus. Dieser wird von Roh verstanden als Antipode einer im engeren Sinne des Wortes realistischen, das heißt auf genaue Wiedergabe der gegenständlichen Welt hin ausgerichteten Kunst. In genauem Gegensatz zu ihr dränge der Expressionismus auf eine “Absolutheit der Form”, auf “expressive Deformierung der Objekte”, in der Komposition “rhythmisierend” und “dynamisch”,

die Formen untereinander in gewaltigen Taumel bringend und das gesamte Leben als Vulkanismus sich widersprechender Strebungen und Kräfte verstehend.

8In den zeitgenössischen Bildern eines Kay Nebel, Georg Schrimpf, Anton Räderscheidt oder Alexander Kanoldt glaubt Roh dagegen eine Rückwendung zur Gegenständlichkeit als Tendenz ausmachen zu können. Sie wird von ihm interpretiert als Ausdruck eines “gestiegenen Wirklichkeitssinnes” und Versuch, “die Wirklichkeit im Zusammenhange ihrer Sichtbarkeit wieder einzusetzen”. Durch eine allgemein zu konstatierende “verschärfte Hinwendung auf die Objekte” werde die Malerei nach den ekstatischen Räuschen des Expressionismus damit wieder zum “Spiegel des greifbaren Außen”. Trotz dieses Wiederauflebens realistischer Tendenzen könne jedoch, so Roh, von einem “neuen Realismus” im Sinne einer Anlehnung an die “Realisten” des 19. Jahrhunderts wie etwa Leibl oder Courbet keine Rede sein. “Die neue Gegenstandswelt” bleibe “dem gewöhnlichen Begriffe des Realismus fremd” — dafür erscheine sie trotz aller Wirklichkeitstreue in der Darstellung zu wenig vertraut, zu “unheimlich”, zu “rätselhaft”. […]

9Als historische Vorläufer für die neue Kunstrichtung führt Roh all die Stile an, die “möglichste Statik, Sachschärfe, taktile Härte, Regungslosigkeit der Figuration und geo­metrische Spannung enthielten”. Im einzelnen erwähnt er u.a. das Quattrocento des Nordens und des Südens, vertreten etwa durch Konrad Witz, Piero della Francesca, Mantegna und Carpaccio, die “eigenwillige Dingschärfe des Mittelalters”, das Nazarenertum und den “formenhärtende(n) Klassizismus eines David oder Ingres”. Seine Beobachtungen an der “neuesten europäischen Malerei” zusammenfassend, konstruiert Roh schließlich eine Art Merkmalkatalog, in dem die Positionen von Expressionismus und Nachexpressionismus einander gegenübergestellt sind:

img-1-small450.png[...]

Massimo Bontempelli und die Zeitschrift ‘900’

10Unabhängig von dem deutschen Kunsthistoriker Franz Roh und vor einem ganz anderen Hintergrund als dieser gelangt Mitte der zwanziger Jahre auch der italienische Schriftsteller und Publizist Massimo Bontempelli zu dem Begriff eines “magischen Realismus”.

11Im Herbst 1926 gründet Bontempelli eine vorwiegend literarisch orientierte, vierteljährlich erscheinende Zeitschrift namens 900 (Novecento), als Redaktionsmitglieder gewinnt er international bekannte intellektuelle Größen wie James Joyce, Georg Kaiser und Pierre Mac Orlan. Das ursprüngliche Ziel des ambitioniert als eine “tentative européenne” gestarteten Unternehmens ist die theoretische Begründung und praktische Verbreitung einer Form von Literatur, die der besonderen geistesgeschichtlichen Situation im Europa des Zwanzigsten Jahrhunderts Rechnung tragen soll. In diesem Sinn entwickelt Bontempelli, der Kopf und Herausgeber von 900, ein ästhetisches Programm, das sich mit steigender Heftzahl konkretisiert und schließlich die Überschrift “magischer Realismus” erhält. Folgende Überlegung steht am Anfang von Bontempellis Versuch, eine Literatur der Moderne zu begründen: Die Welt ist komplex und immer un­durchschaubarer geworden, bisher gültige Ordnungen sind relativiert. Für den einzelnen Menschen ergibt sich daraus das Problem der Orientierungslosigkeit. Eine wesentliche Aufgabe der mit dem Ende des 1. Weltkrieges einsetzenden Moderne sei daher, so glaubt Bontempelli, dem Menschen wieder eine geistige Heimat in der Welt zu geben, mit anderen Worten,

de bâtir à nouveau le Temps et l’Espace [...], de se fabriquer un centre, des rayons, un cercle; quelques polyèdres; enfin tout une géométrie spirituelle.

12Getragen ist die Forderung nach einer neuen “géométrie spirituelle” von einem besonderen Verständnis dessen, was “Welt” für das Individuum eigentlich ausmacht. Bontempelli sieht hier zwei sich unterschiedlich konstituie­rende Realitätsbereiche, nämlich eine “réalité extérieure” und eine “réalité individuelle”, die zusammengenommen erst die eigentliche menschliche Wirklichkeit, den sogenannten “monde habitable”, bilden. Diese für den modernen Menschen “neu” einzurichten, indem eine neue, ebenso allgemein wie individuell verbindliche Realität geschaffen werde, sei das Gebot der Stunde. Zu erwarten sei eine solche Leistung nicht von der philosophischen Refle­xion, sondern allein von der Praxis der Kunst. Nur diese — und hier denkt Bontempelli in erster Linie an die erzählende Literatur — sei in der Lage, die notwendige “nouvelle atmosphère” zu schaffen, indem sie die objektiv seiende Welt, den “monde réel”, um einen die Individuen der modernen Gesellschaft verbindlich verbindenden “monde imaginaire” bereichere. Zu diesem Zweck aber müsse die Literatur sich ihrer ursprünglichen Aufgabe wieder bewußt werden: der “invenzione del mito e della favola”. Mit Hilfe der “imagination”, die für Bontempelli von zentraler Bedeutung ist, gelte es, wieder neue Mythen und Legenden zu erfinden:

Il faut apprendre de nouveau à raconter, à combiner des mythes et des fables, à inventer des personnages et des intrigues. [...]

13Deutlich hebt Bontempelli also auf das Erzählen von Geschichten, auf die inhaltliche Seite von Literatur ab. Wie, das heißt in welcher sprachlichen Form erzählt wird, ist ihm unwichtig, ausdrücklich bekennt er sich zu einer “attitude anti-stylistique”. Sprache soll Mittel, nicht Zweck sein. Und um die Beliebigkeit der sprachlichen Form zu verdeutlichen, erscheint die Zeitschrift des Italieners Bontempelli nicht auf Italienisch, sondern in der Fremdsprache Französisch — die meisten der Beiträge sind folglich Übersetzungen. Übersetzbarkeit wird für Bontempelli geradezu zum Konstituens eines literarischen Werkes der Moderne: “Une des pierres de touche d’une œuvre vingtième siècle sera sa traductibilité”.

14Was den Stoff der neu zu erfindenden, den “monde habitable” verändernden Mythen und Legenden anbelangt, so denkt Bontempelli ausdrücklich nicht an die in seinen Augen arbiträre Phantastik des Märchens etwa im Sinne der Erzählungen aus 1001 Nacht. Im Gegenteil, gerade die prosaische Welt des Alltags sei als eine Wirklichkeit voller Geheimnisse und Abenteuer zu begreifen:

Plutôt que de la féerie, cest de laventure quon a soif ; de la vie même la plus quotidienne et la plus banale, vue comme une aventure miraculeuse, comme un risque perpétuel, et comme une trouvaille continue d’héroïsme et de ruse pour sen dégager.

15Über die Annäherung an das Alltägliche und Empirisch-Faßbare also solle zum Abstrakten und Wunderbaren, zum “‘merveilleux‘ nouveau” vorgestoßen werden. In diesem Sinne gelte es, eine tiefere Schicht der Wirklichkeit sichtbar zu machen, “de déplacer un coin de la surface de la réalité pour vous faire voir la réalité plus profonde”.

16Indem die menschliche Erfahrungswirklichkeit im Alltag beschreibend neu entdeckt wird, so der idealistisch-dialektische Ansatz Bontempellis, werde sie zugleich auch verwandelt. Kunst, das heißt hier genauer die erzählende Literatur, werde damit zur wirklichkeitsverändernden magischen Praxis, zu einem “acte de magie au lieu dune pratique bureaucratique”. Und nur dank ihrer könne der verlorengegangene “sens du mystère” wiedergefunden und eine “géométrie spirituelle” entworfen werden, in der das gesuchte “équilibre entre le ciel et la terre” wieder hergestellt sei.

17Auf der Suche nach einer griffigen Überschrift zu dem so skizzierten Programm, gelangt Bontempelli schließlich interessanterweise auf einem ähnlichen Weg wie Franz Roh, nämlich über eine Auseinandersetzung mit der Malerei, zu dem Terminus “magischer Realismus”. Als der Italiener nach historischen Vorbildern für die von ihm angestrebte Art von Literatur Ausschau hält, stößt er nicht etwa auf einzelne Schriftsteller oder literarische Schulen, sondern auf die Maler des Quattrocento. Er nennt Masaccio, Mantegna und Piero della Francesca — Maler also, die auch von Roh als Vorbilder für die Malerei des Nachexpressionismus angeführt worden waren.

18“Par leur réalisme exact”, notiert Bontempelli, “enveloppé d’une atmosphère de stupeur lucide, ils sont étrangement près de nous”. Als Charakteristikum dieser Maler entdeckt Bontempelli ein ähnliches Paradox wie schon der Kunsthistoriker Roh. Geleitet von seinem Interesse an der minutiösen Erfassung der Welt der sichtbaren Erscheinungen, dringe der Maler des Quattrocento zu einer Welt hinter den Dingen, zu einem unsichtbaren “Übernatürlichen” vor:

Plus grandes étaient la diligence et la perfection avec lesquelles sa main servait les trois dimensions, et davantage son esprit vibrait dans l’Autre. Plus il se sentait fidèle et jaloux de la Nature, et mieux il parvenait à l’isoler en l’enveloppant de sa pensée figée dans le surnaturel.

19Genau an diesem Punkt, das heißt der spannungsträchtigen Verbindung von “précision réaliste” und “atmosphère magique”, sieht Bontempelli die Verbindung zu dem von ihm geforderten “Novecentisme”. Wie die großen Maler des Quattrocento verwahre auch der “Novecentisme” sich gegen den nur vordergründigen Realismus ebenso wie gegen die “fantaisie pour la fantaisie” und lebe “par le sens magique quil sait découvrir dans la vie quotidienne de la nature”.