[Traduction de Louis Mühlethaler et Lilas Imbaud]
1Am 14. Mai 1796 entfernt der englische Arzt Edward Jenner Material von einer Pustel an der Hand der an Kuhpocken erkrankten Melkerin Sarah Nelmes und impft damit den gesunden acht Jahre alten Jungen James Phipps. An der Stelle der Impfung bildet sich eine Pustel, die wieder verschwindet. Daraufhin impft er den Jungen am 1. Juli mit den menschlichen Pocken, ohne daß eine Erkrankung erfolgt. Die auffällig lange, schmale Hand der Melkerin, deren tägliche Arbeit sie durch die Euter in Berührung mit den Kuhpocken bringt, weist auf der Zeichnung Jenners die Merkmale einer Krankheit auf, die für den Menschen unschädlich verläuft, nach ihrem Abklingen aber bleibende Immunität gegen die entstellenden und häufig tödlichen Pocken hinterläßt. Noch Krankheitszeichen, deutet sich in ihnen schon der Schutz an, den sie nach ihrem Vernarben hinterlassen.
2Die Hände einer Frau, deren Gesicht unbekannt geblieben ist, sind Ausgangspunkt für eine Entdeckung, die am Ende des 18. Jahrhunderts eine Revolution der Medizin zu ihrem Abschluß bringt: Die medizinische Prophylaxe, die in Europa mit der gefährlicheren Variolisation Anfang des Jahrhunderts begonnen hat – bei ihr wird eine milde Form der menschlichen Pocken verimpft –, wird durch die Ersetzung mit den Kuhpocken in der Vakzination ungefährlich. Das neue Verfahren der Inokulation1, so die These dieses Buches, wird zum Modell für die Umgestaltung diverser Kulturtechniken. Die medizinische Praxis, die schützt, ohne die vollen Risiken des Ernstfalls zu bergen, dient der Literatur des 18. Jahrhunderts dazu, Erfahrungen zu artikulieren, die auf Lebenskrisen vorbereiten. Dem Übel, das einem widerfahren ist, selbst der traumatischen Erfahrung, kann so Sinn abgewonnen werden, und für Ereignisse, die selten sind, wird die Imagination zu einem Ort, an dem das künstliche Unglück das wirkliche vorwegnimmt. Ähnlich wie bei der Pockenimpfung werden Zumutungen bewältigt, indem man sie heraufbeschwört.
3Die Impfung ist nur der Scheitelpunkt einer langen Geschichte, die Immunität und Literatur thematisch miteinander verbindet. Die folgende Arbeit zieht die Linie dieser Geschichte durch exemplarische Punkte: Sie beginnt im fünften Jahrhundert vor Christus mit einer Beobachtung des griechischen Historikers Thukydides. Seine Geschichte des Peloponnesischen Krieges hält ein Ereignis fest, das als die erste schriftliche Beobachtung erworbener Immunität gilt:
Am meisten hatten immer noch die Geretteten Mitleid mit den Sterbenden und Leidenden, weil sie alles vorauswußten und selbst nichts mehr zu fürchten hatten; denn zweimal packte es denselben nicht, wenigstens nicht tödlich. Diese wurden glücklich gepriesen von den anderen und hatten auch selbst seit der Überfreude dieses Tages eine hoffnungsvolle Leichtigkeit für alle Zukunft, als könne sie keine andere Krankheit mehr umbringen.2
4Lange bevor das Interesse der Medizin an Immunität als Resistenz gegen Infektionskrankheiten erwacht, wird sie in literarischen Texten thematisch. Deren Interesse richtet sich auf eine Erfahrung, deren politische und psychologische Relevanz kaum überschätzt werden kann. Erworbene Immunität wahrt die Integrität des Körpers während einer Epidemie und stellt von einem kollektiven Schicksal frei. Sie beruht auf einer Erfahrung, die ihre Wirkung in der Zukunft entfaltet, indem sie den Körper gegen eine bestimmte Krankheit verschließt. Diese ist gleichsam schon durchgearbeitet worden und hinterläßt – im Wortsinn oder übertragen – eine Narbe, in der sich die Geschichte des Körpers manifestiert. Neben der natürlichen Immunisierung durch eine Infektion kennen literarische Texte auch die Immunität gegen Schlangengift und andere Gifte sowie mannigfaltige Vorläufer der Impfung von der Mithridatisation, der nach dem mythischen König von Pontos benannten Giftgewöhnung, über die Kauterisierung, der schützenden Zerstörung von Gewebe durch Brenn- oder Ätzmittel, bis hin zur Abhärtung. Es sind dies Praktiken, die seit dem 19. Jahrhundert als Atavismen wahrgenommen werden, sich zu ihrer Zeit aber innerhalb des Rahmens der zeitgenössischen Medizin bewegten.
5Im 18. Jahrhundert, der Zeit, die den Scheitelpunkt dieser Geschichte bildet, wird die Medizin zu dem Ort, an dem das Wissen und die Praxis der Immunisierung sich artikulieren. Die Breite der Auseinandersetzungen um die Impfung deutet an, daß es in ihr um eine kulturelle Umwälzung größeren Maßstabs geht, durch die es möglich wird, einer Krankheit durch die gezielte Infektion zuvorzukommen. In der Impfung kündigt sich die neue Kulturtechnik der Vorwegnahme an, die in Immunisierung mündet. Dies hat Konsequenzen für den Begriff der Erfahrung: Wir erfahren, um gegen den Stimulus der Erfahrung geschützt zu sein. Auch der medizinische Begriff der Krise erhält in diesem Zusammenhang eine kulturelle Dimension. Goethe überträgt ihn von der Pockenimpfung auf neu konzipierte Entwicklungsvorgänge. Diese lassen sich als Versuch beschreiben, die Krise - analog zur Medizin verstanden als Zeitraum, in dem sich der Verlauf einer fiebrigen Krankheit, hervorgerufen durch unassimilierte Elemente, in einer intensiven Auseinandersetzung entscheidet - aus einem passiven Leiden zu einer aktiven Erfahrung zu gestalten. Seit dem 18. Jahrhundert ist medizinische Immunität ein Paradigma, das Wissensbestände in anderen Bereichen formt. So wird etwa auch die Inokulation von Friedrich Schiller zur Beschreibung der Tragödienwirkung verwendet und diese in Analogie zu jener konzipiert. Was mit einem metaphorischen Transfer einhergeht – Diskurse sind Schauplatz tropologischer Austauschprozesse –, ist die Erschließung einer ähnlichen Struktur in einem anderen diskursiven Bereich. Paradigma ist daher nicht mit Kuhn als historischer Argumentationsrahmen einer Wissenschaft zu verstehen, für den »anerkannte wissenschaftliche Leistungen [...] maßgebende Probleme und Lösungen liefern«3, sondern als Regularität, in der unterschiedliche diskursive Räume korrespondieren.
6Erst im 19. Jahrhundert etabliert sich ein systematisches Wissen von der biomedizinischen Immunität, das zunächst in einer doppelten Gestalt auftritt: Die medizinische Geographie definiert Immunität als Qualität eines Ortes, während die Immunologie nach ihren vitalistischen Anfängen körperliche Resistenz zellulär und chemisch bestimmt. Die entlang der Differenzierungen ihres Wissens entstehende Literatur der Moderne hat ein ungleich filigraneres und idiosynchratischeres Verhältnis zur Wissensgeschichte. Dabei kann es sich wie im Fall Marcel Prousts um ein biographisch motiviertes Interesse an allergischen Reaktionsformen handeln, die zu poetologischen Faktoren werden. Oder um einen Roman, der wie Thomas Manns Der Zauberberg die Einführung in eine Realität zum Gegenstand hat, die eine Realität des Wissens ist und seinen Protagonisten zu einer Veränderung seines Körper-Ichs zwingt.
7Literarische Texte - daher der Titel dieses Buches, Die Immunität der Literatur - interessieren sich nicht nur thematisch für Immunität.4 Vielmehr stellt die immunologische Thematik einen privilegierten Ort dar, an dem Literatur über sich selbst nachdenkt. Es gibt also eine Immunität, die der Literatur eigen ist und die sich in der immunologischen Thematik der Texte reflektiert. Daher geht es der Argumentationslinie dieses Buches weniger um exemplarische Querschnitte als vielmehr um systematische Etappen einer Erkundung des literarischen Wissens um Immunität. Schon Thukydides entwickelt aus der Struktur der Immunisierung, die er während der Epidemie beschreibt, eine Heuristik und eine Pädagogik des historischen Textes, dessen Aufgabe darin gesehen wird, Erfahrung aufzuzeichnen, um auf zukünftige Gefahren durch die Charakterisierung des Überstandenen vorzubereiten. Die Immunisierung setzt eine genaue Kenntnis dessen voraus, wovor sie schützt, und das Versagen des ärztlichen Wissens während der Epidemie ist deshalb so gravierend, weil sich die Krankheit der Kenntnis widersetzt. Ein Widerstand, der den Schreibprozeß als Irritation motiviert.
8Im 18. Jahrhundert erscheinen diese reflexiven Einfaltungen literarischer Texte – die in Metaphern, Motiven, thematischen Reihen oder Reflexionen lokalisiert werden können – zunächst als Inokulation. Am deutlichsten ist dies im Fall Schillers, der das Pathetische der Tragödie als »Inokulation des unvermeidlichen Schicksals« beschreibt. Die Immunisierung durch den tragischen Affekt kennzeichnet ihm zufolge Wirkung – der Zuschauer wird immunisiert – und Struktur – das Pathetische ist das Ergebnis der Tragödienarchitektur, die eine affektive Beziehung zwischen Bühnenfigur und Zuschauer herstellt – einer literarischen Gattung. Es handelt sich nicht um eine Trope zur Kennzeichnung wirkungsästhetischer Theoreme, sondern vielmehr um eine Erfahrung, die keinen anderen Namen als denjenigen der Impfung zur Beschreibung ihrer Struktur hat.
9In anderen Fällen reflektiert eine thematische Sequenz programmatische Bestimmungen des Romans, die einen geschichtsphilosophischen Hintergrund haben: so im Fall Jean-Jacques Rousseaus. In seinem Préface de la Nouvelle Héloïse: ou entretien sur les Romans rechtfertigt er das Verfassen von Romanen – obwohl er sie für schädlich, weil infektiös erachtet – dadurch, daß er sie mit der Inokulation vergleicht: Wenn sie auch gefährlich ist, so legitimiert die grassierende Epidemie das Verabreichen des gefährlichen Mittels. Die historisch begründete Definition des Romans setzt sich in der Inokulation als Thema des Romans fort. In Julie ou la Nouvelle Héloïse steckt sich in der als inoculation de l'amour bekannten Szene Saint-Preux freiwillig mit den Pocken an, indem er seine pockenkranke Geliebte küßt. Die an pornographischen Anspielungen reiche Szene überblendet die Liebesthematik, durch die der Roman die Imagination einer Verfallszeit verdirbt, indem er künstliches Begehren weckt, mit den Pocken. Und er verwendet die Liebesthematik, um eine Immunisierung zu bewirken. Nicht nur ist die Liebe der beiden unschuldig, und im Medium des künstlichen Begehrens erscheint ein Bild der guten Natur, sondern die beiden überleben auch die Pocken trotz der Mißachtung der medizinischen Regeln für die Variolisation.
10Die moderne Literatur sucht demgegenüber eine größere Nähe zu Details immunologischer Forschung. Dies gilt beispielsweise für Marcel Proust, dessen Asthma ihn in einem medizinisch informierten Elternhaus zum Spezialisten in Fragen der zeitgenössischen Immunologie macht. Insbesondere die Anaphylaxie – zu diesem frühen Zeitpunkt nach der Jahrhundertwende der Oberbegriff, unter den Asthma und später der jüngere Begriff Allergie fallen – ist ihm bis in die Details bekannt. Sie bestimmt die Krankenbiographie des jung verstorbenen Autors, der erfährt, wovon die Medizin spricht, ist aber auch das entscheidende Paradigma seines Romans À la recherche du temps perdu. Wie kein anderer Einfluß prägen immunpathologische Strukturen insbesondere die dysphorische Liebesthematik des Romans. Schließlich aber auch den Schreibprozeß, der am Ende des Romans immer mehr in den Vordergrund tritt. Dieser bedarf der Wiederbelebung der anfallartigen Schmerzen, die auf ein eifersüchtiges Gedächtnis im Augenblick der Erinnerung warten. In der frühen Immunologie werden anaphylaktische Reaktionen als Vorformen der Immunität interpretiert, so daß es sich bei dem Schreiben als Provokation allergischer Reaktionen um den Versuch einer Heilung handelt.
11Literatur verhandelt an der immunologischen Thematik ihre eigenen Möglichkeiten und Verfahrensweisen. Und die Immunität der Literatur ist ebenso diejenige, die der Literatur eigen ist, wie diejenige, die in sie thematisch Eingang findet. Insofern kann man in der schmalen Hand der Melkerin auch eine Schreibhand erkennen wollen. Literarische Texte suchen in den Themen der Immunität nach einem Wissen, das in der Lage wäre, sie in einer Erfahrung zu gründen, die dem Schutz gewidmet ist.
12Die Reflexion der Literatur auf sich selbst, die bei dem Thema Immunität ansetzt, läßt sich als Modell verstehen, das es möglich macht, neu über die Funktion der Literatur nachzudenken. Für die Ausbildung von Immunität ist die Berührung mit der Krankheit entscheidend. Die Kulturgeschichte der Immunisierung besteht aus einer Reihe von Verfahren, die dieser Berührung ihre Gefahr nehmen: Die gute Konstitution, Bettruhe und Pockenmaterie von einem leicht verlaufenen Fall der Krankheit bei der Variolisation, die Verwendung der Vakzine oder Kuhpocke, die vor den menschlichen Pocken schützt, bei der Vakzination machen die Impfung weniger gefährlich. Seit Louis Pasteur werden chemische Mittel angewandt, um Bakterien für die Impfung zu schwächen. Wesentlich für das Verständnis von Immunität ist daher, daß sie durch Irritation entsteht und einen Sensibilisierungsprozeß darstellt, der in der modernen Immunologie seit Nils Jerne kognitiv interpretiert wird. Diese Sensibilisierung formt ein Gedächtnis, das Reaktionen verändert und beschleunigt. Wenn Literatur also mit Vorliebe Konflikte und schmerzvolle Erfahrungen kommuniziert, so läßt sich das als Sensibilisierung verstehen, die Konfliktfähigkeit ausbildet und die Schwelle für destruktive, potentiell allergische Reaktionen heraufsetzt.
13Niklas Luhmann hat im Rahmen der Forderung nach einer »allgemeinen Immunologie« ein Immunsystem beschrieben, das als Darstellung der Funktionsweise von Literatur gelesen werden kann:
Mit Hilfe eines Gedächtnisses können Erstvorfälle das System binden. Das führt zu einer gerichteten Sensibilisierung des Systems. Im Falle einer Wiederholung des Vorfalls kann das System dann verstärkt, spezifiziert und beschleunigt reagieren. Auf diese Weise werden die wahrscheinlicheren (wahrscheinlich sich wiederholenden) Störungen ausgefiltert und, dadurch bedingt, unwahrscheinlichere Störungen als Zufälle für lernende Anpassung abgesondert. Das Erkennungsverfahren wird raffiniert, ohne daß eine Analyse ihrer Ursachen erforderlich wäre.5
14Literatur hätte demnach die Funktion, uns auf hohe Konfliktwahrscheinlichkeit einzustimmen.
15Es ist daher nicht verfehlt, sie als Therapie zu verstehen - eine Möglichkeit, auf die Alain Badiou erneut aufmerksam gemacht hat.6 Daher ist der Vergleich mit Sigmund Freuds Schriften über die Psychotherapie aufschlußreich, da er in ihr - was bislang nicht thematisiert wurde - eine Einrichtung zur Ausbildung von Konflikttoleranz mit der Hilfe von Vorstellungen aus der Immunologie gründet. Freuds Werk ist so einerseits ein Beispiel für die Rezeption immunologischer Tropen, andererseits führt seine Beschreibung der Psychoanalyse als Institution der präventiven Konflikterzeugung eine Einrichtung vor, die wie die moderne Literatur die Erzeugung von Immunität zu ihrer Aufgabe macht. Man könnte daher behaupten, sie setzte das Projekt der Literatur außerhalb ihres Bereiches fort. Immunität ist ein Begriff, der gegenwärtig eine Konjunktur erlebt, da seine Geschichte erlaubt, neue Perspektiven auf Fragen des Zusammenlebens zu öffnen. Immunitas, von dem der Name Immunität abgeleitet ist, gehört der sprachgeschichtlichen Untersuchung des französischen Linguisten Émile Benveniste zufolge zum Vokabular der Gastfreundschaft, da es von der Wurzel *mei- abgeleitet ist, die einen Austauschprozeß zum Ausdruck bringt. Nachdem es zunächst die Verpflichtung eines Beamten bezeichnet, im Gegenzug für die Vorteile seines Amtes Spiele auszurichten, wird es im römischen Recht zu einem Instrument, das von Abgaben, dem munus, befreit.7 Die dem Vokabular der Gastfreundschaft zugeordneten Institutionen sind wesentlich für die Verfaßtheit der Gemeinschaft. In der Rechtsgeschichte setzt sich die Begriffstradition in der mittelalterlichen Kirchenimmunität8 und schließlich in der diplomatischen Immunität9 fort, bevor sie in der Immunologie zur Namensgeberin des Wissens um die Resistenz gegen Infektionen wird.
16Aufgrund seiner zentralen Stellung hat der Begriff in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt.10 Roberto Esposito hat in zwei Werken communitas und immunitas aufeinander bezogen und die Moderne als Zeitraum bestimmt, in dem Gemeinschaft sich mit Immunität überlagert und ko-extensiv wird.11 Daß die Begriffe für Gemeinschaft in vielen indoeuropäischen Sprachen von communitas abgeleitet sind, läßt sich als Zeichen dafür verstehen, daß die negative wie die distributive Form des munus – immunitas und communitas – eine konstitutive Rolle spielen, die weit über die eines Elementes im Vokabular der Gastfreundschaft hinausgeht. Gemeinschaft bildet sich dieser Logik zufolge dadurch, daß Menschen den munus gemeinsam haben – co-munitas – und durch Amtspflichten verbunden sind. Von diesen entheben die Privilegien der in-munitas, die daher Ausnahmen zu universellen Gesetzen statuieren. Sie haben einen komparativen und einen privativen Aspekt.
17Im Anschluß an Esposito hat Peter Sloterdijk die Moderne als Zeit der »Immunitätsdämmerung« bestimmt, die die »intellektuellen Lichtverhältnisse über dem 20. Jahrhundert«12 bestimme. Kennzeichen für die Epoche ist ihm zufolge eine »paradoxe Entsicherung«;13 der Mensch verliert in der Moderne einerseits die Selbstverständlichkeiten, die seine Existenz in Lebenszusammenhänge einbettete, so daß er einem »Risikodruck« ausgesetzt ist; andererseits muß er diesen Verlust dann durch prothetische Identitäten ersetzen. Die Entsicherung führt in einem ersten Schritt zur Entdeckung von Immunstrukturen:
Das Forcierte Aufspüren von Hintergrundsicherheit in der eigenen Körperbasis legt eine Schicht von Regulierungsmechanismen offen, nach deren Auftauchen die profunde Unwahrscheinlichkeit von biosystemischer Integrität überhaupt zum ersten Mal in Sicht kommt.14
18Diese werden in einem zweiten Schritt als notwendig erkannt und zur Herausforderung. Daher fordert er eine Philosophie der Zukunft, in der rationale Prozesse allergologisch und immunologisch zu betrachten sind – das heißt, nach ihrer Nützlichkeit und Schädlichkeit in Bezug auf ein integres Selbst gewichtet werden.
19Literatur ist eine Institution der Gemeinschaft, da es sie ohne eine anderen verständliche Sprache und die Verbreitung literarischer Texte nicht gäbe. Sie als immunologische Institution verstehen bedeutet, ihr eine wichtige Aufgabe zuzuerkennen. Sie bietet Formen an, durch die es möglich wird, Konflikte und Zumutungen zu provozieren, um einen Schutz gegen sie bereitzustellen.