Acta fabula
ISSN 2115-8037

2024
Juillet 2024 (volume 25, numéro 7)
Manfred Landfester

« Griechen und Deutsche: der Mythos einer “Wahlverwandtschaft1” »

[Traduction de Cassandre Martigny]

1Als in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der nachrevolutionären Erfahrungen vor allem in Deutschland und Frankreich das Nationale ins Zentrum politischer, gesellschaftlicher und kultureller Reflexion rückte, entwarfen Friedrich Schlegel und Wilhelm von Humboldt als Vordenker einer deutschen intellektuellen Avantgarde den Mythos von der »Wahlverwandtschaft« der deutschen und griechischen Nation beziehungsweise der Deutschen und Griechen. Die Deutschen wurden –  so das berühmte Schlagwort im Weimar jener Zeit – die »Griechen der Neuzeit«. Dieser national geprägte Griechenmythos wurde besonders als ein Mittel der Abgrenzung gegenüber der französischen Nation formuliert. Er überlagerte und ersetzte in Deutschland innerhalb kurzer Zeit den europäischen Griechenmythos, den 40 Jahre vorher Johann Joachim Winckelmann begründet hatte. Der neue Mythos wurde für ein Jahrhundert zu einem nicht unbeträchtlichen Faktor der deutschen nationalen Identitätsbildung, bis er am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend an Überzeugungskraft und einfluß verlor.

2Damit ist die Gliederung des Folgenden gegeben: I. der europäische Griechemythos, II. der deutsche Griechenmythos und III. die Geschichte und das Absterben des deutschen Griechenmythos.

I. Der europäische Griechenmythos

3Erfinder und Konstrukteur dieses Mythos war der Deutsche Archäologe und spätere römische Museumsdirektor Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), der mit seiner schmalen kunsttheoretischen Abhandlung »Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst« von 1755 und seiner »Geschichte der Kunst des Altertums« von 1764 die erste und einzige dauerhafte neuzeitliche Rezeption der griechischen Antike begründete. Zwei Vorzüge der Griechen konstituieren den Mythos: I. Die griechische Kunst ist als Nachahmung der Natur Ausdruck des »allgemeinen Schönen« beziehungsweise des »vollkommenen Schönen« weil in ihr »nicht allein die schönste Natur, sonder noch mehr als Natur« zu finden ist, nämlich »die im Verstande entworfene geistige Natur«. 2. »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist […] eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke […]. Je ruhiger der Stand des Körpers ist, desto geschickter ist er, den wahren Character der Seele zu schildern: […] Kentlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften; groß aber und edel ist sie in dem Stande der Einheit, in dem Stande der Ruhe.« Daraus folgt die gleichermaßen lapidare wie wirkungsvolle Forderung: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten […] sonderlich der Griechen«2.

4Mit diesen beiden grundlegenden Thesen wurde Winckelmann im Namen der griechischen Antike zum Widersacher der Moderne in Kunsttheorie und Kunstpraxis:

5I. Seine Ansicht von der griechischen Kunst als Ausdruck einer vollkommenen Natur war ein sophistisch-geschickter Schachzug zur Überwindung des Gegensatzes von Kunstschönem und Naturschönem, der die zeitgenössische Kunsttheorie bestimmte. Im zeichen dieses Gegensatzes hatte sich die alte »Querelle des Anciens et des Modernes« festgefahren – zuungunsten freilich der Antike-Liebhaber, die mit ihrem Gebot der Nachahmung der antiken Kunst den Ansprüchen der Moderne auf Nachahmung der Natur nicht wirkungsvoll begegnen konnten. Indem Winckelmann nun das Kunstschöne der Griechen mit dem wahrhaft Naturschönen identifizierte, hob er den alten Gegensatz zwischen beiden auf. Und provokativ formulierte er dann: »Das Studium der Natur muß […] ein längerer und mühsamerer Weg zur Kenntnis des vollkommenen Schönen seyn, als es das Studiumd er Antiquen ist.«3

62. Winckelmanns Forderung »Zurück zu den Griechen« im Zeitchen »edler Einfalt und stiller Größe« bedeutete eine Absage an die Modernen Künstlerischen Ausdrucksformen des Barock und Rokoko; damit wurde die ganze moderne romanische, namentlich die italienische und französische, Kultur diffamiert. Das war eine umfassende Modernitätskritik, denn Winckelmann war mit seinem Begriff des Klassischen nicht nur auf ein spezielles Kunstvorbild, sonder auch auf ein allgemeines Lebensvorbild fixiert. Griechische Kultur wurde zum Ausdruck wahrer Humanität. Was aber nicht weniger folgenreich war : mit seiner Forderung opferte er die Römer der Antike als Vorbilder für die Gegenwart; die römische Kultur wurde zu einer Nachahmung griechischer Kunst von minderer Qualität : »Eine Bildsäule von einer alten römischen Hand wird sich gegen ein griechisches Urbild allemal verhalten, wie Virgils Dido […] sich gegen Homers Nausicaa verhält, welche jener nachzuahmen gesuchet hat.«4 Damit wurde aber nicht nur die römische Kultur geächtet, sondern zusätzlich auch die modernen romanischen Kulturen, die zu einem nicht geringen Teil aus dem Geist der lateinischen Tradition entstanden waren. Die Entdeckung der Griechen führte also zur Befreiung von der Moderne und von der in der Moderne wirkenden Tradition.

7Natürlich hatte auch ein Winckelmann seine Vorgänger. So Konnte er mit seiner Idealisierung der Griechen etwa an Vostellungen von Anne Claude Philippe de Tubières-Grimoard, Comte de Caylus, anknüpfen, der 1752 in der Einleitung5 seines Werkes »Recueil d’antiquités égyptiennes, étrusques, grecques et romaines« (Sammlung äguptischer, etruskischer, griechischer und römischer Altertümer) die kulturellen Leistungen der Griechen auf Kosten der Römer verherrlicht hatte6. Aber auch sonst nahm er Gedanken seiner Zeit auf. Mit großem Geschick mischte er dabei aus Angelesenem und Eigenem eine Mixtur, die, imprägniert mit dem Griechenpathos, auf jeden Fall originell wirkte.

8Im Unterschied zu seinen Ideenlieferanten prägte Winckelmann mit seinen Anschauungen die Vorstellungen seines Zeitalters; er hatte diese Anschauungen gegen seine Zeit formuliert, aber er traf und weckte mit ihnen die geheimen Sehnsüchte seiner Zeitgenossen. Sein heimlicher Bundesgenosse war dabei vor allen Jean-Jacques Rousseau, der mit seinen Bußpredigten gegen den zivilisatorischen Fortschritt ein »Zurück zur Natur« propagierte7. Während Rousseau den glücklichen naturhaften Urzustand des Menschen der Künstlichkeit und Zerrissenheit der eigenen modernen Welt entgegenhielt, spielte Winckelmann die Natürlichkeit und Einfachheit (Einfalt, simplicity, simplicité) der griechischen Kultur und des griechischen Menschen gegen die Künstlichkeit und Kompliziertheit der Moderne aus. Das was dasselbe Denkmodell; das eine stabilisierte das andere. Nicht nur Kunst- und Literatur-theorie, sondern auch die Künste selbst und die Architektur gerieten in Europa schnell in den Bann der Begriffe und Vorstellungen Winckelmanns. Damit erreichte Winckelmann genau das Ziel seiner Schriften. Ihre Adressaten waren von Anfang an die Europäer seiner Zeit, denn das Wort »uns« in dem berühmten Zitat »Der einzige Weg für uns […], groß […] zu werden, ist die Nachahmung […] der Griechen«8 verweist, obwohl in Deutschland geschrieben, auf die Europäer. Winckelmanns Griechenparadigma war nicht national, sonder übernational europäisch gedacht.9 Aber ganz unabhängig von dem Problem des gemeinten Adressaten: Die Wirkung Winckelmanns war ein europäisches Phänomen. Das von ihm entfachte »Griechenfieber« erfaßte große Teile Europas. Seit den 70er Jahren hatte es vor allem in der bürgerlichen Bildungsschicht der europäischen Länder den Charakter einer Epidemie. Die Griechen hypnotisierten die Gegenwart;10 aber das waren natürlich nicht die historischen Griechen, sondern die eigenen personifizierten Vorstellungen und Wünsche, denn »jeder«, so Friedrich Schlegen, »hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte und wünschte, vorzüglich sich selbst«. Die Absage an die Modernität war nichts anderes als eine verdeckte neue Modernität. Christophe Martin Wieland demonstrierte seine neuen Vorstellungen in den Verserzählungen »Musarion oder Die Philosophie der Grazien« (1768) und in seiner »Geschichte des Agathon« (1766/67) am Beispiel einer fiktiven griechischen Welt, die Züge von Winckelmanns Griechenschwärmerein enthielt11.

9Der Schweizer Stürmer und Dränger Johann Caspar Lavater knüpfte mit dem 25. Fragment »Über Ideale der Alten, schöne Natur, Nachahmung« seiner »Physiognomischen Fragmente zur Befürderung der Menschenkenntniß und der Menschenliebe« (1775-1778) an Gedanken Winckemanns an. Christoph Willibald Gluck erneuerte in Paris im Namen von Winckelmanns Forderungen die zeitgenössische Oper, indem er die Maßlosigkeit des musikalischen Ausdrucks bekämpfte und die Musik zur »Dienerin der Poesie« machte12. Der Maler Asmus Jacob Carstens propagierte die Erneuerung der Malerei durch Rückgriff auf die Darstellungsweise der griechischen Vasenmalerei und die vermeintliche Achromie der griechischen Skulptur: In großen Kartonzeichnungen beschränkte er sich auf Darstellungen mit reinen Umrißformen. In Frankreich zog sich der Lyriker André Chénier in seinen »Bucoliques« in die Zuberwelt Arkadiens, einer Gegenwelt der Moderne, zurück. Selbst modische Allüren »à la Grecque« setzten sich durch: Haar- und Keidermoden nach griechischem, zumindest aber nach antikem Vorbild wurden attraktiv, denen auch eine Marie Antoinette huldigte und mit denen die gefeierte schweizerische Malerin Angelica Kauffmann in ihren Porträts ihre zeitgenössischen Auftraggeberinnen in ganz Europa ausstattete. Im Schatten der Griechen Winckelmanns entwickelte sich europaweit auch die Architektur. So wurden in vielen Bereichen der Kultur Europas bis zum Ausbruch der Französischen Revolution gräzisierende Elemente wirksam, die, gedacht als Absage an die Modernität, in Wirklichkeit eine neue Modernität begründeten, wenn sie sich nicht äußerer modischer Attitüde erschöpften.

10Der Griechenmythos mit seiner »Weltbürgerlichen«, seiner übernationalen Perspektive blieb in Deutschland bis in die beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts lebendig. Friedrich von Schiller und Johann Wolfgang von Goethe waren es vor allem, die diesen Mythos noch einmal stärkten. Ihre Freundschaft, deren »Gründungsdokument« der große Geburstagsbrief Schillers an Goethe vom 23. August 1794 ist, wurde nicht zuletzt im Zeichen dieses Mythos geschlossen: Als Europäer setzten sie sich in »ihrer ästhetischen Koalition«13 mit den Griechen auseinander. Dabei lösten sie ihre Werke und Reflexionen immer stärker aus direktem antike Traditionsbezug und banden sie an ein universell-ästhetisches Ideal an, das sie als »antik« beziehungsweise »griechisch« deklarierten. Schillers »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795) und seine Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« (1795/96) sowie Goethes Aufsatz »Antik und modern« (1818) sind von einer übernationalen Betrachtungsweise geprägt. Und für Goethe galt ausdrücklich (1827-1830): »Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen: die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit.« In dieser Hinsicht hieß es dann in »Antik und modern« recht apodiktisch: »Jeder sei auf seine Art ein Grieche! Aber er sei’s.«

11Mag die Griechenschwärmerei auch häufig spielerischen Charakter – bisweilen sogar mit einem Zug ins Kitschige – gehabt haben, so ist ihre kulturreformatorischer Antrieb doch zweifelsfrei: Ihre Ziel war letztlich eine umfassenden Erneuerung der modernen europäischen Kultur. Diese Erneuerungsbewegung hatte eine nicht unbeträchtliche, zumindest indirekte politische und gesellschaftliche Sprengkraft. Da die Träger der neuen Kulturbewegung in der Mehzahl Angehörige der bürgerlichen Bildungsschicht waren, für die Freiheit die Bedingung und Gleichheit das Ziel der neuen Kultur war, stellten sie im Namen dieser Kultur die Unfreiheit des absolutistischen Staates und die Ungleichheit der Ständegesellschaft in Frage und distanzierten sich von der »Gallomanie« des Adels und des absolutistischen Staates, oder sie befreiten sich zumindest von deren Druck. Sie setzten nicht auf Partizipation am absolutistischen Staat und an der Ständegesellschaft, sondern auf Emanzipation von Staat und Ständegesellschaft. Der Marquis von Posa in Schillers »Don Carlos« (1787) ist Ausdruck dieses Denkens. Dadurch wollten diese Vordenker – so Wilhelm von Humbold in einer späteren Formulierung – die »Vertilgung des Menschen im Bürger« verhindern.14

12Die Hinwendung zur Erneuerung der Kultur unter Verzicht auf Partizipation an der konkreten Politik war keine Kompensation für die Schwierigkeit oder sogar Unmöglichkeit der Teilhabe am Staat, sondern Ausrück eines liberalen Individualismus, der in der Einbindung des Menschen in den Staat dessen »wahren Zweck«, »die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«, gefährdet sah, wie Wilhelm von Humboldt 1792 in den »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen«, schrieb. Der absolutistische Staat wurde verdächtigt, nicht Garant, sondern Widersacher einer Wahrhaft humanen Bildung zu sein. Die Verkünder der neuen Kultur fühlten sich als Vorhut der Gesellschaft der Zukunft, deren Zweck die Verwirklichung dieser Kultur in Freiheit und Gleichheit war. Für Humboldt hatte diese staatsfreie Bildung sogar eine direkte politische Funktion, denn »der so gebildete Mensch« müsste dann in den Statt treten, und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation15 mit Gewissheit hoffen«.16

13Mag die Griechenbegeisterung auch bedeutende Teile der kulturprägenden Schichten in Europa erfaßt haben, so gab es doch natürlich auch Distanzierung, Widerspruch und Spott. Denis Diderot machte zum Beispiel Winckelmann in seinem »Salon de 1765«17 (Kunstausstellungsberichte von 1765) zu einem »liebens-würdigen Schwärmer« (enthousiaste charmant) nach Art des Rousseau und rückte ihn in die Nähe eines Don Quijote.18 Begriffe wie Gräkomanie,19 Hellenomanie, Griechenfieber zur Bezeichnung der neuen Mode waren Ausdruck eines eher gutmütigen Spottes. Und harmlos war auch der Scherz, den Fürchtegott Christian Fulda mit den »Xenien« trieb,20 wenn er deren hausbackene metrische Qualität parodierte:

»In Weimar und Jena macht man Hexameter wie der;
Aber die Pentameter sind doch noch exzellenter!«

14Stärker ideologisch aufgeladen war die Kritik an den Griechen im Namen der jeweils eigenen Kulturnation. Vor allem in Deutschland befürchtete man, die eigene kulturelle Identität zu verfehlen, wenn man sich nicht gegen das neue Fremde wehre. Diese Furcht konnte zur regelrechten Obsession werden, da man zugleich von der Vorstellung gepeinigt war, daß die Deutschen wegen der Nachahmung einer Fremden Kultur, nämlich der römisch-romanischen, bisher keine eigene Identität hätten finden sich zahlreiche Spuren dieses Denkens. So schrieb etwa Gottfried August Bürger im Jahre 1776:

»Deutsche sind wir! Deutsche, die nicht griechische, nicht römische, nicht Allerweltsgedichte, in deutscher Zunge, sondern in deutscher Zunge deutsche Gedichte, verdaulich und nährend fürs ganze Volk, machen sollen […]. Geb uns einer ein Großes Nationalgedicht von jener Art, und wir Wollen’s zu unserm Taschenbuch machen.«21

15Zwar konnte sich diese Gegebewegung zunächst nicht durchsetzen, sie blieb aber ein Stachel im Fleisch der neuen Zeit. Und es versteht sich von selbst, daß diese nationalkulturelle Gegenbewegung auch in der Zukunft ihre Anhänger finden mußte – vor allem in Zeiten geistiger Lustlosigkeit. Zunächst aber wucherte di Gräkomanie; die Ahnung eines Spötters22 aus dem Jahre 1762 hatten nicht getrogen: »[…] gehet das so weiter fort: so griechenzen23 wir ärger als die griechenzendsten Griechen gegriechenzent haben.«

II. Der deutsche Griechenmythos

16Für die Geschichte des neuzeitlichen Griechenmythos wurde die Französische Revolution von 1789 zu einer bemerkenswerten Zäsur. In Frankreich verlor dieser Mythos innerhalb kurzer Zeit seine große Attraktivität. Seine Stelle nahm vorübergehend ein neuer, ein republikanisch ausgerichteter Römermythos ein, den die führenden Revolutionäre in Hochgetriebener Rhetorik zur Sicherung der neuen Republik proklamierten. Als die staatstotalitären Tendenzen in der Revolution Zunahmen, erhielt dieser Römermythos zwar Unterstützung durch einen verwandten Spartanermythos, aber insgesamt dominierte in der Französischen Revolution der Römermythos24. Da jedoch zahlreiche Propagandisten der Revolution diesen Mythos auch zur Zeit der Terreur (2. Juni 1793 bis 27 Juli 1794) einsetzten, büßte er mit deren Ende seine Anziehungskraft ein und verglühte so schnell, wie er entstanden war. Für eine Wiederbelebung des alten Griechenmythos bot aber die geistige Sterilität der napoleonischen Epoche die schlechtesten Voraussetzungen, wenn auch etliche klassizistische Tendenzen unausrottbar waren.

17Ganz anders verlief die Geschichte des Griechenmythos in Deutschland.25 Dort begünstigte und förderte die Französische Revolution die Entstehung eines neuen, eines nationalen Griechenmythos, der innerhalb von zwei Jahrzehnten den alten europäischen Mythos verdrängte. Dieser neue Mythos war ein spezifisch deutsches Produkt im Gefolge des nationalen Denkens, das durch die außergewöhnlichen politischen und militärischen Erfolge der französischen Nation seit der Revolution und durch sie ausgelöst wurde. Er wurde zu einem wichtigen Instrument der nationalen Identitätssicherung von allem gegenüber dem mächtigen und erfolgreichen Nachbarn.26 Wesentlicher Inhalt dieses Mythos war: Deutschland ist die überlegene Kulturnation in Europa aufgrund seiner Wahlverwandtschaft mit den Griechen in Sprache, Geist und Charakter. So wurde also das Krisenbewußtsein im Gefolge des französischen nationalen Aufbruchs in einer neu konzipierten nationalen Identität geläutert. Dem Faktum der politischen Überlegenheit Frankreichs stellten die jungen Vordenker einer neuen Intelligenz den Anspruch auf kulturelle Überlegenheit gegenüber.

18Der Gedanke von der Verwandtschaft der Deutschen mit den Griechen kam offensichtlich Mitte der 90er Jahre auf. In einem Brief an Schiller vom 22. September 179527 äußerte Humboldt eher beiläufig die Absicht, seine »Grille von der Aehnlichkeit der Griechen und Deutschen ins Licht zu setzen«. In den folgenden Jahren wiederholte er in Briefen an verschiedene Freunde, namentlich an Friedrich Heinrich Jacobi, Johann Gottfried Schweighäuser und Goethe, diesen Gedanken,28 so daß sich Humboldts »Grille« in den Köpfen dieses einflußreichen Kreises festsetzen konnte. Die Vorstellung von der Griechennähe der Deutschen formulierte etwa gleichzeitig auch der junge Provokateur Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz »Über das Studium der Griechischen Poesie« (entstanden Herbst 1795; gedruckt 1797), in dem er eine »moderne Kunstkonzeption« aus dem »Ideal des Schönen in der Griechischen Dichtkunst« entwickelte:

»In Deutschland, und nur in Deutschland hat die Ästhetik und das Studium der Griechen eine Höhe erreicht, welche eine gänzliche Umbildung der Dichtkunst und des Geschmacks notwendig zur Folge haben muß […]. Welchen weiten Weg haben unsre einzigen bedeutenden Nebenbuhler, die Franzosen noch zurückzulegen, ehe sie es nur ahnden können, wie sehr sich Goethe den Griechen nährere!«29

19Kennzeichen der neuen deutschen »ästhetischen Bildung« ist als Folge der Nachahmung der Griechen die »Vielseitigkeit«, »ein naher Vorbote der Allgemeingültigkeit«, im Unterschied zur nationalen »Einseitigkeit« der Franzosen.30

20Friedrich Schlegel verband in dieser Schrift die Vorstellung von der Griechennähe der Deutschen mit der schon etablierten Anschauung von dem kulturellen Vorrang der Deutschen vor den anderen europäischen Nationen, besonders von Frankreich. Diese hatte sich seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts als ein Produkt der Selbstbehauptung und Identitätsvergewisserung gegenüber dem mächtigen Nachbarn herausgebildet. So hattet Friedrich Gottlieb Klopstock das »neue Gesez (sic) vom Übertreffen«31 formuliert. Danach konnte sich die deutsche Kulturnation als letzte im europäischen Völkerbund »als eine Art Summe der europäischen Kulturkette erweisen«.32 Johann Gottfried Herder hab diesen Gedanken epigrammatischen Ausdruck: »Der Deutsche kam zuletzt, sah jedem seine Art ab und übertrifft oder regiert sie alle«.33 Aus dem Makel der alten Unterlegenheit wurde so der Vorteil einer dauerhaften Überlegenheit. Genauso fest war Schiller von den Vorrang der Deutschen überzeugt, wenn er in dem Gedicht-fragment »Deutsche Größe« (entstanden 1797; gedruckt 1875) apodiktisch schrieb: »Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit«34. Durch den Gedanken von der Griechennähe der Deutschen wurde die neue Überlegenheit gesteigert, wenn nicht erst begründet. Die Verwandtschaft mit der auserwählten Nation der Griechen machte die Deutschen selbst zur auserwählten Nation, natürlich zur auserwählten Kulturnation, denn, gebannt durch das griechische Beispiel, glaubte man eine Staatsnation in der Art Frankreichs verschmähen zu müssen, weil diese zur »Einseitigkeit« des »Nationalcharakters« führe und seine erwünschte »Vielseitigkeit« und »Allgemeingültigkeit« verhindere. Die staatliche Vielfalt in Deutschland galt in solchen Denkhorizonten nicht als Mangel, sonders als unabdingbare Voraussetzung für die nationale Überlegenheit. Auch die militärischen Niederlagen gegen Frankreich bis zum Ende des Alten Reichs konnten das Vertrauer dieser Denker in die Idee einer autonomen Kulturnation nicht erschüttern, im Gegenteil: Nicht selten gab sie in diesen Jahren ihren Anwälten der nötigen inneren Halt und eine große Überzeugungsfestigkeit, und zwar vor allem deswegen, weil diese die neue Literatur nicht aus einer kategorialen Eigenwertigkeit der deutschen Nation herleiteten, sondern aus deren Fähigkeit, die Summe der Leistungen aller Nationen zu einer neuen Universalität zu verarbeiten : »In Deutschland Europa ganz in sich vollendet – der eigentliche Kern von Europa.«35 Völker oder Nationen galten nur als relative Gebilde, als – so Herder – Schattierungen »eines und desselben großen Gemäldes, das sich durch alle Räume und Zeiten der Erde verbreitet.« Daher befürchtete etwa Friedrich Schlegel »in der oberflächlichen Fixierung auf eine autonome „Nationalpoesie“ den Verlust des inneren grundlegenden gemeinsamen europäischen Zusammenhangs aller Poesie.« Nationalität war keine Alternative zum Universalismus, sondern seine Bedingung.

21Die Voraussetzungen für eine dauerhafte und breite Geltung des neuen Griechenmythos waren nicht günstig, denn er war nicht nur ein artifizielles Gebilde einer geistigen Elite, sonder stieß auch in der neuen Generation, der Generation der Romantiker, auf Widerspruch. Ebenso hatte man nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Expansion und angesichts der eigenen kulturellen Leistungen kein Unterlegenheitsgefühl gegenüber Frankreich mehr. Und dennoch blieb dieser Mythos nicht Episode; im Gegenteil: Er entwickelte sich zu einem erfolgreichen und zugleich zählebigen Mythos, eingebunden in die Institutionen Gymnasium und Universität und getragen von der Schicht des Bildungsbürgertums. Die entscheidenden Weichen stellte Humboldt 1809:10 als Leiter des Kultur- und Unterrichtswesens, indem er im Zuge der Erneuerung Preußens nach der Niederlage gegen das Frankreich Napoleons eine vor allem an den Griechen orientierte Bildung, also die im engeren Sinne humanistische Bildung, zur Grundlage des neu formierten Gymnasiums in Preußen machte und diese Bildung in den Rang einer Nationalbildung erhob. Da diese Bildungskonzeption ihre deutlichen Spuren in der Philosophischen Fakultät der neugegründeten Berliner Universität und damit in der durch sie eingeleiteten Neugestaltung der preußischen Universitäten hinterließ, wurde sie auch für die Entwicklung der modernen Universität wichtig. Über das Vorbild Preußen wurde sie dann schnell in den übrigen Staaten Deutschlands in Schule und Universität wirksam. So wurde die Geschichte des neuen Griechenmythos auch Teil der Geschichte des deutschen Bildungssystems sowie seiner Garanten (den einzelnen Staaten) und seiner Träger (dem Bildungsbürgertum).

22Seit 1792, entwickelte Humboldt in kleineren und teilweise auch fragmentarischen Schriften die Grundgedanken seiner Bildungskonzeption, die ihre Verwurzelung im Idealismus nicht verleugnen konnten und wollten. Ihre Wirkung wurde vor allem durch zahlreiche persönliche Kontakte und durch einen ausgedehnten Briefwechsel mit Gleichgesinnten gesichert und erhöht. Das besondere Merkmal ihre Konzeption war der Gedanke von der Entfaltung des Individuums. Das bedeutete Erziehung zur Selbständigkeit, zur Selbsttätigkeit und zur Selbstverantwortung. Ihre Entfaltung – si der zentrale Grundsatz – kann nur erreicht werden durch die »höchste und proportionirlichste Bildung […] [der] Kräfte [des Menschen] zu einem Ganzen«, die als den »wahren Zweck des Menschen« »die ewig unveränderlich Vernunft ihm vorschreibt«.36 Vorbild dafür war der griechische Nationalcharakter, der in seiner Vielseitgkeit und harmonischen Ausbildung der »Idee der reinen Menschheit«, dem »Charakter des Menschen überhaupt«37 am nächsten komme. Die neue Bildung sollte die Erziehungspraxis der Aufklärung ablösen, die – so Humboldt und seine Mistreiter – ganz auf die Erhöhung der Brauchbarkeit oder des Nutzens des Menschen für den absolutistischen Staat ausgerichtet war. Äußerlich ist für diese Bildung ein antimodernistischer Charakter signifikant, indem sie den Rückgriff auf die Vergangenheit als ein Instrument der Gegenwartsbewältigung einsetzte; in Wirklichkeit aber war sie aus dem Geist der neuen Zeit geboren. Hatte Humboldt zu Beginn der 90er Jahre in dieser neuen Bildung noch eine Herausforderung des absolutistischen Staates gesehen, so wurde sie unter dem Eindruck der umfassenden preußischen Reformtätigkeit in Staat und Gesellschaft als Antwort auf die Niederlage gegen Napoleon zur Aufgabe des Staates. Als Mittel seiner eigenen Erneuerung und Modernisierung förderte jetzt der Staat diese Bildung.

23Legimationshilfe bot dabei der neue Griechenmythos, indem er die Grundlage der Bildungskonzeption, die griechische Sprache, sanktionierte, denn wenn die deutsche Sprache eine große Verwandtschaft mit der griechischen hatte, dann wurde durch die Rezeption der griechischen Sprache als des Ausdrucks ihres unübertroffenen Geistes oder Charakters Deutschland nicht nur zur auserwählten Kulturnation in Europa, sondern die neue Bildung wurde auch zur überlegenen Bildung gegenüber konkurrierenden Bildungskonzepten in Deutschland selbst, sowohl gegenüber einer nur an der eigenen Tradition orientierten Bildung als auch gegenüber einer »realistischen« Bildung. Das Fremde wurde so das verborgene Eigene, und zum Eigenen gelangte man über das Fremde, das damit seine wirkliche Fremdheit verlor. Mit seiner Bindung an die neue Bildung war die Geschichte des Griechenmythos vor allem eng mit der Geschichte dieser Bildung verknüpft.

III. Die Geschichte und das Absterben des deutschen Griechenmythos

24Der Griechenmythos wurde für die Dauer fast eines ganzen Jahrhunderts in allen deutschen Ländern zum Leitmythos des höheren Bildungssystems, denn die Humboldtschen Reformen führten während der nächsten Jahre nicht nur in Preußen, sondern mit unterschiedlicher Phasenverschiebung auch in allen deutschen Ländern bis etwa 1840 zu einer Veränderung der Bildungswirklichkeit des Gymnasiums.38 An die Stelle eines primär an lateinischen Autoren und Werken orientierten Bildungskonzeptes trat eine Konzeption, in der das Griechische zum Maßstab wahrer Bildung wurde, wenn auch das Lateinische in den Lehrplänen und in der Unterrichtswirklichkeit quantitativ noch dominierte. Wer mit der Zeit gehen wollte, mußte antik-griechisch sein. Die Zeit-geistverkünder setzten nun auf die griechische Menschlichkeit als höchste Form der Menschlichkeit. Aber nicht nur die quasiinstitutionelle Verankerung des Mythos verlieh ihm Dauer, sondern auch seine Symbiose mit der »Weimarer Klassik«, denn indem die deutschen »Griechen« Goethe und Schiller mit ihren »klassischen« Werken durch die Literaturgeschichtsschreibung das Ziel der Entwicklung der gesamten deutschen Literatur wurden,39 partizipierten an ihrer Geltung die Propheten der neuen Bildung. Es war eine Allianz, die beiden zugute kam. Sie machte – und das ist keine Kleinigkeit – gegen einen radikalen kulturellen Nationalismus immun. So konnte auch ein Historiker wie Heinrich von Treitschke im ersten Band seiner »Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert«40 von 1879 formulieren:

»Den Romanen war eigentlich nur die altrömische Welt wahrhaft vertraut geworden; die Deutschen zog ein Gefühl der Wahlverwandtschaft zu dem hellenischen Genius. Ihnen zuerst unter den modernen Völkern ging das volle Verständniß des griechischen Lebens auf, und als ihre neue Bildung gereift war, durfte ihr Dichter frohlockend rufen: aber „die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns!“41 Durch die Einkehr in die Formenwelt des Altertums erlangte die so oft arm und hart gescholtene deutsche Sprache nicht nur einen guten Theil ihres alten Reichthums wieder; sie zeigte auch eine ungeahnte bildsame Weichheit und Schmiegsamkeit. Sie allein unter den neuen Cultursprachen erwies sich fähig, alle Versmaße der Hellenen treu und lebendig nachzubilden; […] die Mehrzahl der Dichter und Denker […] blieb deutsch, nahm von hellenischer Bildung nur an was deutschem Wesen zusagte.«

25Während der Griechenmythos durch die Quasiinstitutionalisierung schnell in einer beinahe geschäfstmäßigen Weise abgehandelt wurde, erhielt er in den 20er Jahren anläßlich des Freiheitskampfes der Griechen gegen die Herrschaft der Türken eine unverhoffte Attraktivität und Wirksamkeit. Zwar weckte die Rebellion gegen die Türken eine Grieschenbegeisterung in allen europäischen Ländern,42 aber in Deutschland erhielt dieser Enthusiasmus in weiten Kreisen des Bürgertums eine besondere Intensität, weil man hier bischer schon »das Land der Griechen mit der Seele« gesucht hatte.43 Diese ältere Sehnsucht vermischte sich jetzt mit dem Wunsch, zumindest durch Gedichte am Freiheitskampf teilzunehemen.44 Was aber besonders bemerkenswert ist: Einzelne Griechen begannen unter dem Eindruck des deutschen Griechenbildes ihr eigenes Land zu entdecken. So übersetzt der junge grieschische Student Johannes Papadoupoulos nicht nur die Goethesche »Iphigenie auf Tauris« ins Neugriechische,45 sondern er entschloß sich auch 1819, mit Freunden am griechischen Freiheitskampf teilzunehmen und die »Iphigenie wieder nach Griechenland« zu bringen. Daher ist es bei aller historischen Zufälligkeit doch nicht ohne innere Logik, wenn ein Deutscher 1832 der erste König des neuen griechischen Staates wurde. Daß dies mit Prinz Otto von Bayern der Sohn des bayrischen Königs war, der seine Residenzstadt wie kein anderer deutscher Fürst mit gräzisierenden Bauten ausgestattet hatte und der sich bereits als Kronprinz durch Vorträge des Altertumswissenschaftlers Friedrich Jacobs mit den kulturellen Leistungen Griechenlands vertraut gemacht hatte, erhöht den Beziehungsreichtum.

26 Das sich der Griechenmythos innerhalb des Bildungssystems vor allem in enger Symbiose mit dem Gymnasium etabliert hatte, hing sein äußeres Schicksal vom Schicksal des Gymnasiums ab. Dessen Stellung änderte sich wesentlich erst am Ende des Jahrhunderts. Der Prozeß der Veränderung wurde durch die berühmt-berüchtigte Rede Kaiser Wilhelms II. Auf der Preußischen Schulkonferenz von 1890 eingeleitet:46

»Wer selber auf dem Gymnasium gewesen ist und hinter die Coulissen gesehen hat, der weiß, wo er fehlt. Und da fehlt es vor allem an der nationalen Basis. Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche Nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer. Wir müssen von der Basis abgehen, die Jahrhunderte lang bestanden hat, von der alten klösterlichen Erziehung des Mittelalters, wo das Lateinische maßgebend war und ein Bischen Griechisch dazu. Das ist nicht mehr maßgebend. Wir müssen das Deutsche zur Basis machen. Der deutsche Aufsatz muß der Mittelpunkt sein, um den sich alles dreht.«

27Zwar hielten sich die Veränderungen zunächst in Grenzen, aber zehn Jahre später verlor das Gymnasium durch die Schulkonferenz von 1900 seine privilegierte Stellung, da das Realgymnasium und die Oberrealschule als Schulformen ohne Griechische die Zugangsberechtigung zum Studium aller Studiengänge an den Universitäten verliehen. Mit dieser Beseitigung des Gymnasialmonopols büßte der Griechenmythos seine einzigartige institutionelle Sicherung ein. Aber er hatte bereits seit der Mitte des Jahrhunderts zunehmend an Suggestivkraft verloren, wenn er sich auch als ein unverzichtbares Element der Legitimationsrhetorik im Bildungssektor behauptet hatte. Die Gründe für den Verlust an Überzeugungskraft waren von unterschiedlicher Art:

281. Die beherrschenden geschichtsphilosophischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts, vor allem die Geschichtsphilosophie Hegels und ihre Derivate, hatten die Antike um ihre unmittelbare Wirkungsmöglichkeit gebracht, da sie diese zu einer überwundenen Vorstufe der Moderne beziehungsweise zu einer in der Moderne »aufgehobenen« Epoche degradiert hatten. Der Stolz auf die eigene Zeit ließ keine Verehrung des Vergangenen zu. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die »klassizistischen« Tendenzen und Spuren in den meisten Bereichen der Kunst und Literatur mit dem fortschreitenden Jahrhundert immer mehr zurückgingen.

292. Die Wissenschaft von der Antike, entstanden aus dem Bedürfnis, die Besonderheit vor allem der griechischen Antike mit den Mitteln der Wissenschaft zu rekonstruieren, ahtte die Alltäglichkeit der Antike entdeckt. Die Wissenschaft hatte also die Vorbildlichkeit der Antike zerstört und damit die Grundlage des Griechenmythos. Das war ein geradezu zwangsläufiges Ergebnis, denn die Besonderheit der Antike in der Humboldtschen Konzeption war ja nicht das Ergebnis einer historischen Rekonstruktion, sondern der utopische Entwurf eines neuen Menschen aus dem Geist der neuen Zeit gewesen.

303. Der Griechischunterricht selbst hatte seine Ziele nicht erreicht. Nach der Vorstellung Humboldts sollte über das Erlernen der Sprach als eines Systems der Geist, die Weltsicht oder der Charakter der Griechen vermittelt werden. Das war ein kühner Gedanke, der freilich schwer in die Praxis umzusetzen war, denn die Beziehungen zwischen der Sprache einer Nation und ihrem „Geist“ sind alles andere als leicht zu bestimmen. Begreiflicherweise schaffte es Humboldt auch nicht, pädagogisch umsetzbare Konzepte zu entwickeln, so daß der Unterricht als Sprachunterricht das blieb, war er früher war und im Allgemeinen auch immer sein wird, grammatischer Unterricht. Damit konnte der Unterricht die Verheißungen des Griechenmythos nur begrenzt einlösen. Solange die griechischen Texte auch ihrer Inhalte wegen gelesen wurden – das wir bis zur Jahrhundertmitte sicherlich üblich –, behielt der Griechenmythos eine zwar unbestimmte, aber doch lebendige Grundlage. Als jedoch seit der Mitte des Jahrhunderts der Griechischunterricht unter dem Eindruck der Praxis und Theorie des Lateinunterrichts nur noch zum Erlernen der Grammatik als einer Art „angewandter“ Logik führte, verlor der Griechenmythos auch in der Unterrichtswirklichkeit sein Fundament.

31Das paradoxe Ergebnis: Die Wissenschaft vom Altertum und das Gymnasium entzauberten und banalisierten durch ihr Tun den Mythos von der Wahlverwandtschaft, dem sie wesentlich ihre Entstehung und ihre einzigartige Stellung im 19. Jahrhundert verdankt hatten. Nur noch im Diskurs von Fest- und Legitimations- reden bemühten sie ihn zur Sicherung ihrer Existenzgrundlage; aber im Alltag ihre Tuns galt er ihnen nichts mehr.

32Zu den wenigen, die erkannten, daß die Praxis in Wissenschaft und Schule die Antike um ihre Bedeutsamkeit für die Gegenwart gebracht hatte, gehörte der klassische Philologe Friedrich Nietzsche. Indem er mit seiner Schrift »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« von 1872 eine neue Nähe zwischen Griechen und Deutschen entdeckte, wurde er nicht nur zum philologischen Häretiker, sondern auch zum Gegenspieler seines Zeitalters: Wie das griechische Volk durch Vollendung seines „dionysischen Triebes“ in der Tragöde des 5. Jahrhunderts v. Chr. das wahre Ziel der Kultur erreicht hat, so ist das deutsche Volk als erstes Volk in Europa nach einer mehr als 2000jährigen Herrschaft der theoretischen Vernunft wieder imstande, im Werk Richard Wagners mit der »Wiedergeburt der Tragödie« eine kulturelle »Vollkommenheit« wie die Griechen zu erreichen. Die Tragödie der Griechen ist kein einmaliges und unwiederholbares Phänomen, sondern als Manifestation einer vollkommenen Ausprägung des universellen „dionysischen Triebes“ eine Möglichkeit der Gegenwart und Zukunft. Auf eine neue Weise ist Deutschland so fähig, zum auserwählten Volk in Europa zu werden und seinen Vorrang vor allem gegenüber Frankreich zu begründen.

33Nietzsches neue Griechenverherrlichung, die auch eine Wagner-verherrlichung war, wurde von seinen Zeitgenossen kaum wahrgenommen, geschweige denn verstanden. Erst um die Jahrhundertwende entstand unter dem Eindruck der Fin-de-siècle-Stimmung der Wunsch nach Erneuerung und Lebensveränderung im Zeichen eines vor allem mit den Augen Nietzsches und der modernen Psychologie wahrgenommenen Griechentums. Noch einmal wurde das »Land der Griechen« als eine Möglichkeit der Gegenwart entdeckt: Seine archetypischen Lebensformen sollten eine exklusive Gegenkultur schaffen. Vor allem das Triumvirat Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt und Stefan George, außerdem noch Rudolf Alexander Schröder wurde zu neuen Propheten und Priestern eines aus dem Griechentum gewonnene „reinen Bildes des Menschen“.47 Die Resonanz dieser Dichter und Denker, die in der Antike das Zeitlose fanden, hielt sich in Grenzen. Ohnehin kamen als potentielle Leser nur die Gymnasialgebildeten, also etwa fünf Prozent der Bevölkerung, in Frage. Aber die starke Pluralisierung der anspruchsvollen Literatur grenzte den Kreis des Publikums in Deutschland noch einmal ein. Außerhalb Deutschlands blieb diese neue Antike-Usurpation schließlich weitgehend unbeachtet.

34Wissenschaft und Schule, die traditionellen Hüter des Griechentums, verhielten sich zunächst distanziert oder ablehnend, das sie, genährt vom Geist des „Positivismus“, nur Spekulatives witterten. Sie suchten und fanden nur ihre eigenen Bürgerlichkeit in der Antike. Zwar stöhnte man unter der Last des Wissens, erbaute sich aber gleichzeitig an der Askese seines Tuns. Darüber hinaus vertraute man auf die alten ideologischen Schutzbunker aus der Zeit vom Beginn des Jahrhunderts. Die Wende kam nach dem Ersten Weltkrieg und durch ihn. Im Bewußstein einer fundamentalen Kulturkrise wurden die Griechen noch einmal zu Helfern in der „Not“ der Gegenwart. Nun verlor man plötzlich alle Berührungsängste mit den neuen literarischen Verehrern der Antike, im Gegenteil: Man wählte sie zu Bundesgenossen. In der Bewahrung und Bewährung des „abendländischen“ Geistes fand man ein gemeinsames Ziel. Treibende kraft war Werner Jaeger, der von der Geltung der griechischen Antike durch ihre kontinuierlich Wirksamkeit bis in die Gegenwart überzeugt war. Dabei garantierte vor allem die „Weimarer Klassick“ als ein Ergebnis der Rezeption griechischer Literatur diesem neuen Humanismus, dem „Dritten Humanismus“, in Deutschland seine besondere Mission. Aber die Notgemeinschaft zur Rettung der Gegenwart aus dem Geist der Antike war klein geworden, die Konkurrenz anderer sinnstiftender Programme dagegen groß. Immerhin: Jaeger gelang es in kurzer Zeit, eine beachtliche Zahl von klassischen Philologen der jüngeren Generation in Wissenschaft und Schule mit seinen Vorstellungen anzustecken, auch fand er in Kreisen des konservativen Bürgertums wohlwollende Unterstützung. Jaeger trag schließlich mit seinem Programm auf vielfältige Stimmungen der Zeit gegen die Moderne. So gab es in der Baukunst eine Wendung zu einem vergröberten antikischen Baustil, und auch Bildhauer wie Gerhard Marcks oder die Münchner Schule um Tom Stadler gingen den Weg von der Moderne zur griechischen Klassik oder sogar zur griechischen Archaik. Aber all das blieb Episode, wenn sich die Vertreter dieses Denkens und Gestaltens nicht dem Nationalismus anbiederten und dadurch ihren Kredit für die Zukunft verspielten.