‚Gender‘-orientierte Erzähltextanalyse als Modell für die Schnittstelle von Narratologie und intersektioneller Forschung? Wissenschaftliche Entwicklung, Schlüsselkonzepte und Anwendungsperspektiven
1Aus der Komplementarität erzähl- und differenztheoretischer Ansätze ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, diese in einen fruchtbaren Dialog zu bringen. Ebenso wie sich die Kategorien der Erzähltheorie und der feministisch orientierten Literaturwissenschaft sinnvoll ergänzen können, kann auch eine Allianz von Narratologie und Intersektionalitätsforschung sehr fruchtbar sein, um die Bedeutung formaler und struktureller Besonderheiten von Erzähltexten für die Konstruktionen von Differenzen in narrativen Texten und Medien zu erschließen und um das dialogische Spannungsverhältnis von Texten und Kontexten zu erhellen.
2Dazu bedarf es allerdings zunächst einer Modifizierung der theoretischen und methodischen Prämissen beider Ansätze. Um feministisch und intersektionell relevante Aspekte in den Blick zu bekommen, ist auf Seiten der Narratologie eine Historisierung und Kontextualisierung der Problemstellungen und Kategorien erforderlich: Die in Texten identifizierten Darstellungsverfahren sind auch im Hinblick auf ihren Wandel und ihre historisch variablen Beziehungen zu den jeweiligen kulturellen Kontexten zu untersuchen. Im Gegenzug bedarf es auf Seiten der feministischen Literaturwissenschaft, der Gender Studies und der Intersektionalitätsforschung einer stärkeren Einbeziehung der Formen des Erzählens und literarischer Darstellungsverfahren, um der narrativen Konstruktion von Differenzen in Literatur und anderen Medien gerecht zu werden.
3Für die narratologisch fundierte Intersektionalitätsforschung ist auch die Einsicht relevant, dass Erzähltechniken formale Ausdrucksmittel kulturspezifischer Erfahrungen und Sinnstrukturen bilden: Die Untersuchung von erzählerischen Verfahren erlaubt Einblicke in die Konstruktion von gesellschaftlichen Vorstellungen von Weiblichkeit, Männlichkeit und generell von weiteren soziokulturell geprägten Differenzen. Von daher sind sowohl die grundlegenden Fragestellungen als auch die weiteren Analyseverfahren der gender-orientierten Erzähltextanalyse für die Erforschung anderer Differenzkategorien gleichermaßen relevant
4Darin gründet zugleich der große Nutzen, den die Analysekategorien und Methoden der feministischen und gender-orientierten Erzähltextanalyse für die intersektionelle Forschung haben. Einerseits kann die Untersuchung der Repräsentation gesellschaftspolitischer, ethischer oder sozialer Fragen in narrativen Texten davon profitieren, Kategorien und Verfahren der Erzähltheorie zu berücksichtigen; andererseits kann die Entwicklung einer kontextorientierten und kulturwissenschaftlichen Erzählforschung von den theoretischen Einsichten und Methoden der Intersektionalitätsforschung profitieren, wenn sie die Semantisierung narrativer Verfahren untersucht und nach deren Bedeutung für die Konstruktion von soziokulturellen Differenzen fragt.
5Obgleich es im Rahmen eines einleitenden Überblicksbeitrags nicht möglich ist, die methodischen Konsequenzen eines solchen Ansatzes im Einzelnen darzulegen, lässt sich die Vorgehensweise einer nicht bloß gender-bewussten, sondern auch kontext- und intersektionalitätsorientierten Erzähltextanalyse in schematisch vereinfachter Form wie folgt umreißen. Zunächst gilt es, die jeweiligen Erzählformen von narrativen Texten mit Hilfe von Analysekategorien einer kontextorientierten Narratologie zu ermitteln. Dabei ist auch danach zu fragen, ob die vorhandenen Modelle und Methoden ausreichen, um alters-, geschlechts- und klassenspezifische Besonderheiten der Erzählweise zu beschreiben, oder ob weitere Ausdifferenzierungen, Ergänzungen und Revisionen der Konzepte und Methoden nötig sind. Zweitens sind die auf diese Weise bestimmten Darstellungsverfahren in Beziehung zu setzen zu den Diskursen, Machtverhältnissen und kulturgeschichtlichen Bedingungen, unter denen Autor/innen in der jeweiligen Epoche lebten und publizierten. Drittens geht es darum, die Frage nach der Semantisierung narrativer Verfahren für die Konstruktion der jeweils untersuchten soziokulturellen Differenzen zu klären.
6Ziel einer solchen erzähltheoretisch fundierten, aber zugleich kontext- und intersektionalitätsorientierten Erzähltextanalyse ist es, über die Untersuchung der Erzähl- und Repräsentationsformen literarischer Texte Einsicht in kulturwissenschaftlich relevante Problemstellungen wie Geschlechterbeziehungen, Konstruktionen soziokultureller Differenzen und Machtverhältnisse zu gewinnen. Die skizzierte Allianz von Narratologie und den Ansätzen der feministischen Literaturwissenschaft, der Gender Studies und der Intersektionalitätsforschung macht sich die Vorzüge innovativer Theoriebildung in der Erzähltheorie zunutze, ohne deren Ausblendung des Kontext- und Wirklichkeitsbezugs von Literatur zu übernehmen. Eine solche kulturwissenschaftliche Erzähltextanalyse verbindet analytisch-rationales Erkenntnisinteresse mit gesellschaftsgeschichtlicher Forschung, indem sie das Hauptaugenmerk auf die ästhetische Anordnung und die erzählerische Vermittlung von Themen, Inhalten und Differenzkategorien richtet.
7Welche Konsequenzen es hat, dass die skizzierte Allianz der Ansätze Erzählformen als textuelle Strategien auffasst, alters-, geschlechts- und klassenspezifischen Erfahrungen durch literarische Form- und Sinngebungsstrategien Ausdruck zu verleihen, lässt sich am besten anhand einer exemplarischen Auseinandersetzung mit einigen ausgewählten Ansätzen und Konzepten einer kulturwissenschaftlichen Erzählforschung zeigen. Da die wichtigsten Problemstellungen, Kategorien und Verfahren, die die feministische und gender-orientierte Erzähltheorie für die Erzähltextanalyse entwickelt hat, in anderen Bänden im Einzelnen dargestellt bzw. angewendet worden sind,1 beschränkt sich diese einführende Darstellung auf einen kursorischen Überblick über einige der von der feministischen Narratologie erschlossenen Bereiche und auf die Frage, welche Anwendungsperspektiven sich dadurch für eine intersektionalitätsorientierte Erzählforschung bzw. eine narratologisch fundierte Intersektionalitätsforschung eröffnen. Dabei soll der zusätzliche Erkenntnisgewinn im Mittelpunkt stehen, der aus der Verbindung erzähltheoretischer Kategorien mit Ansätzen der Gender Studies bzw. der Intersektionalitätsforschung resultiert.
8Anregungen für eine narratologisch fundierte Intersektionalitätsforschung ergeben sich bereits aus der der gender-orientierten Erzähltextanalyse zugrunde liegenden Überzeugung, dass die Frage des Geschlechts von Autor/innen, Erzählinstanzen und Figuren eine relevante Kategorie ist, die sowohl auf der Ebene der Modellbildung als auch bei der Interpretation literarischer Texte zu berücksichtigen ist; das gleiche gilt aus der Sicht einer intersektionalitätsorientierten Erzählforschung für alle weiteren Differenzkategorien. Die geschlechts-, alters- und klassenindifferenten Modelle der Narratologie, die alle soziokulturellen Differenzen außer Acht lassen, sind deshalb ergänzungs- und revisionsbedürftig, weil die von der traditionellen Erzähltheorie ausgeblendeten Kategorien ‚Geschlecht‘, Alter, Generation, Religion, Nation, Region etc. auf mehreren Ebenen narrativer Texte eine grundlegende Rolle spielen: Sie schlagen sich nicht nur auf der Ebene der Figuren nieder, sondern auch bei allen Instanzen, die an der Kommunikation eines Erzähltexts auf inner- und außertextuellen Kommunikationsebenen beteiligt sind.
9Ebenso wie man in Analogie zu der Unterscheidung zwischen erzählten Figuren bzw. erzähltem Geschehen und erzählenden Subjekten etwa zwischen ,erzähltem Geschlecht‘, d.h. den erzählten männlichen und weiblichen Figuren, und ,erzählendem Geschlecht‘, d.h. den weiblichen oder männlichen Erzählinstanzen, differenzieren kann, lassen sich auch die weiteren Differenzkategorien mit Gewinn bei der Untersuchung von Erzählinstanzen und Figuren heranziehen. Nicht nur die Kategorie des Geschlechts ist für die Analyse der Figuren und für alle Erzählpositionen und Reflektorfiguren relevant, sondern auch andere Differenzkategorien wie z.B. race, class sowie Generations-, Religions- und Nationszugehörigkeit.
10Darüber hinaus stehen nicht nur erzählendes Geschlecht und erzähltes Geschlecht in einem engen Wechselverhältnis, sondern das gleiche gilt auch für alle weiteren Differenzkategorien. Es ist ja gerade eine der wesentlichen Einsichten der Intersektionalitätsforschung, dass sich die Kategorien und Verfahren der Differenzstiftung überschneiden, miteinander verwoben sind und sich wechselseitig bedingen. Ebenso wie das Geschlecht der jeweiligen Erzählinstanz maßgeblichen Einfluss darauf haben kann, welche Vorstellungen von ,Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ in einem Text entworfen werden, so prägen auch die übrigen Differenzkategorien das korrelative Verhältnis zwischen z.B. erzählter und erzählender Klasse, Nation, Religion oder Ethnie. Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick bringen die Einsicht, dass erzählendes und erzähltes Geschlecht in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit stehen, durch die Formel „narrating gender“ anschaulich zum Ausdruck.2 Diese Unterscheidung von erzähltem Geschlecht und erzählendem Geschlecht entspricht im Übrigen der in der Narratologie üblichen Differenzierung zwischen einer Ebene der Geschichte (story bzw. histoire) und einer Ebene des Diskurses bzw. Ebene der erzählerischen Vermittlung (discourse bzw. discours). Diese Differenzierung von Kommunikationsebenen, für die es verschiedene Begriffe gibt, bildet meist den Ausgangspunkt für die Analyse der Struktur von Erzähltexten und Filmen.
11Ebenso wie sich die verschiedenen Ansätze der feministischen und gender-orientierten Erzählforschung danach unterscheiden lassen, welchen Ebenen und Konstituenten von Erzähltexten jeweils ihr besonderes Interesse gilt, kann man diese Differenzierung auch für andere Differenzkategorien fruchtbar machen. Dabei stellt sich jeweils die Frage, ob sie sich mehr mit dem ‚Was‘ der erzählten Welt oder dem ,Wie‘ der erzählerischen Vermittlung beschäftigen. Modelle der story-orientierten Narratologie beschäftigen sich mit der Struktur der erzählten Geschichte, beziehen sich also auf die Frage, was Erzähltexte darstellen; im Mittelpunkt steht dabei z.B. das erzählte Geschlecht. Hingegen gehen Ansätze, die zur discourse-orientierten Erzähltheorie zu zählen sind, der Frage nach, wie die erzählerische Vermittlung, die Bewusstseinsdarstellung oder die Perspektivierung in narrativen Texten beschaffen sein können; deren Interesse gilt also primär dem erzählenden Geschlecht bzw. der Frage, wie andere Differenzkategorien die Gestaltung der Erzählinstanz und der Erzählweise prägen bzw. wie gerade umgekehrt die Erzählweise aufgrund der „performativen Kraft des Erzählens“3 die narrative Konstruktion soziokultureller Differenzen prägt. Die Unterscheidung zwischen story und discourse liefert einen Bezugsrahmen, um die verschiedenen Konstituenten narrativer Texte zu bestimmen und systematisch der Frage nachzugehen, auf welchen Ebenen narrative Konstruktionen von Differenzen zu beobachten sind. Der Bereich der erzählten Geschichte wird weiter aufgegliedert in Ereignisse und in der Fiktionswelt existierende Phänomene, bei denen wiederum zwischen den Figuren und dem Schauplatz unterschieden wird. Bei der Analyse der Ebene des Diskurses wird danach gefragt, wer erzählt und aus wessen Sicht die dargestellte Welt geschildert wird. Alle diese Fragen erweisen sich als relevant für die Untersuchung narrativer Konstruktionen soziokultureller Differenzen, denn deren Bedeutung erschließt sich erst aus dem Wechselspiel zwischen Form und Inhalt.
12In ihrer Anfangsphase konzentrierte sich die feministische Erzählforschung weitgehend auf zwei Bereiche, von denen bei der Anwendung der Intersektionalitätsforschung in der Literaturwissenschaft bislang der erste im Vordergrund steht: die erzählten Inhalte bzw. Figuren und die Art des Erzählens. Auf der einen Seite untersuchte die so genannte Frauenbildforschung (bzw. images of women criticism) die in Erzähltexten enthaltenen Weiblichkeitsentwürfe auf der Figurenebene,4 wobei neuerdings die Repräsentationen von Weiblichkeit und Männlichkeit in das Blickfeld gerückt sind. Die von Lanser begründete feministische Narratologie im engeren Sinne auf der anderen Seite war eher am discourse interessiert und versuchte v.a., neue oder erweiterte Typologien für die Struktur der erzählerischen Vermittlung aus feministischer Sicht zu entwickeln.
13Welche Konzepte für die Entwicklung narratologisch fundierter Intersektionalitätsforschung besonders interessante Anhaltspunkt bieten, lässt sich ebenfalls anhand der von der feministischen Narratologie und der gender-orientierten Erzählforschung in das Blickfeld gerückten Aspekte und Verfahren narrativer Texte exemplarisch veranschaulichen. Eine Frage, die in der traditionellen Erzähltheorie bisher kaum eine Rolle gespielt hat, ist die nach dem Geschlecht von heterodiegetischen Erzählinstanzen, die sich analog auf deren ebenfalls in der Regel nicht thematisierten oder analysierten Alter, sozialer und ethnischer Zugehörigkeit übertragen lässt. Mit dem Begriff der hetorodiegetischen Erzählinstanz werden Erzähler/innen bezeichnet, die außerhalb der erzählten Welt stehen und selbst nicht am Geschehen beteiligt sind, das sie erzählen. Im Gegensatz dazu spricht man von ‚homodiegetischen Erzählern‘, wenn diese selbst als Figur in der von ihnen erzählten Geschichte in Erscheinung treten. Während homodiegetische Erzähler/innen aufgrund ihrer personalen Identität mit einer Figur der erzählten Welt in der Regel so stark individualisiert sind, dass über ihr Geschlecht, ihr Alter oder ihre Nationalität kein Zweifel besteht, gibt es bei Erzählinstanzen, die nicht am Geschehen beteiligt sind, oftmals keine Anhaltspunkte dafür, ob sie weiblichen oder männlichen Geschlechts sind. Erst von Seiten der feministischen Narratologie ist darauf hingewiesen worden, dass sowohl die Geschlechtslosigkeit von heterodiegetischen Erzählinstanzen als auch die implizit unterstellte Zugehörigkeit aller auktorialen rzähler zum männlichen Geschlecht der tatsächlichen Vielfalt und Komplexität der erzählerischen Praxis nicht gerecht werden. Dass das Geschlecht auch im Falle von heterodiegetischen Erzählinstanzen eine relevante Analysekategorie ist, hat Ina Schabert in einem programmatischen Überblicksartikel dargelegt.5 Sie erörtert textuelle Indikatoren für die Zuschreibung der Geschlechtszugehörigkeit von Erzählinstanzen und deckt die Implikationen auf, die aus der übergeordneten und privilegierten Position auktorialer Erzähler resultieren. Da heterodiegetische Erzählinstanzen Einblick in das Bewusstsein aller Figuren haben, gleichzeitig an mehreren Schauplätzen anwesend sein können und Überblick über den gesamten Handlungsverlauf besitzen, weisen sie implizit Merkmale auf, die traditionell eher Männern als Frauen zugeschrieben wurden wie z.B. Aktivität, intellektuelle Überlegenheit, Kontrolle über Ereignisse, Dominanzstreben gegenüber anderen.6 Zudem beanspruchen sie Autorität; die Auffassungen von Figuren (und homodiegetischen Erzähler) können in Zweifel gezogen werden, die von heterodiegetischen Erzählern nicht: Wie Catherine Belsey betont, ist diese Erzählinstanz darüber erhaben, die Wahrheit seiner Aussagen nachzuweisen; im Gegenteil, sie „verifies all other statements“.7 Dies ist selbstverständlich auch für die Intersektionalitätsforschung ein viel versprechender Ansatzpunkt; denn auch der autoritative, vermeintlich ,klassen-, bzw. ,geschlechtslose' und neutrale Blick der heterodiegetischen Erzähler könnte als Fiktion entlarvt werden, die gesellschaftliche Machtverhältnisse verschleiert.
14Beispielhaft zeigt sich das Anwendungspotential, das die von der gender-orientierten Erzähltextanalyse entwickelten Analysekategorien auch für die intersektionalitätsorientierte Erzählforschung haben können, im Falle von cross-gendered narratives, also von Erzählungen, bei denen das Geschlecht des Autors zw. der Autorin nicht mit dem der Erzählinstanz übereinstimmt, denn dabei ist die Frage nach dem Geschlecht von heterodiegetischen Erzählinstanzen besonders relevant. Der Erkenntnisgewinn, der aus der Verbindung erzähltheoretischer und feministischer Ansätze resultiert, besteht im Falle des Konzepts von cross-gendered narrative darin, dass erstens der Nachweis erbracht wird, dass die Frage des Geschlechts von heterodiegetischen Erzählinstanzen weder unbeantwortbar noch irrelevant ist. Zweitens ermöglicht es diese Kategorie, Korrelationen zwischen den ermittelten Erzählverfahren und den jeweiligen kulturgeschichtlichen Bedingungsfaktoren zu erstellen. Eine feministisch orientierte Erzählforschung verdeutlicht, dass Formen und Funktionen von cross-gendered narrative nur dann in den Blick rücken, wenn die Frage des Geschlechts von Erzählinstanzen als relevante Untersuchungskategorie eingeführt wird. Eine Analyse solcher Formen und Funktionen von cross-gendered narrative bietet somit die Möglichkeit, diachrone Veränderungen in der Verwendung heterodiegetischer Erzählinstanzen präzise und intersubjektiv nachprüfbar herauszuarbeiten. Insgesamt erweist sich die Frage des Geschlechts von Erzählinstanzen daher als eine sinnvolle Ausdifferenzierung und Ergänzung des Kommunikationsmodells narrativer Texte.
15Ebenso wie die Frage nach dem Geschlecht von Erzählinstanzen nur eine von vielen Möglichkeiten ist, erzähltheoretische Kategorien und Überlegungen der feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies in einen fruchtbaren Dialog zu bringen, können natürlich alle weiteren Differenzkategorien bei der Untersuchung von Erzählinstanzen und Figuren mit interpretatorischem Erkenntnisgewinn herangezogen werden, um narrative Konstruktionen soziokultureller Differenzen in ihrem Wechselspiel zu erhellen. Auch die Gestaltung von Erzählinstanzen und der Struktur der erzählerischen Vermittlungen bietet wichtige Anhaltspunkte, um Einblick in kulturspezifische Besonderheiten der Erzählweise und ihre gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren zu gewinnen. Die bisher umfassendsten Versuche, Narratologie und feministische Literaturwissenschaft zu verbinden und Bausteine zu einer feministischen „poetics of narrative“ zu liefern, bilden die Monographien von Warhol8 und Lanser,9 die sich mit der Gestaltung von Erzählinstanzen in Romanen seit dem 18. Jahrhundert beschäftigen. Anstatt von Realismuskonventionen auszugehen und die ‚Allwissenheit‘ auktorialer Erzähler/innen von vornherein als Illusionsdurchbrechung zu verurteilen, analysieren sie die Formen und Funktionen verschiedener Erzählformen und setzen sie aus feministischer Sicht in Bezug zu kulturgeschichtlichen Problemstellungen. Im Gegensatz zur notorischen Ahistorizität der Narratologie und der antiformalistischen Ausrichtung der meisten feministischen Ansätze gehen Warhol und Lanser von der historischen Variabilität und Konventionalität von Erzähltechniken aus.
16Die Einsicht, dass narrative Formen nicht bloß als ein Produkt gesellschaftlicher Ideologien aufzufassen sind, sondern dass sie als Verkörperungen sozialer, ökonomischer und literarischer Bedingungen und selbst eine Form von textuell manifestierter Ideologie (sensu Jameson) darstellen,10 bietet auch wichtige Anschlussmöglichkeiten für eine narratologisch fundierte Intersektionalitätsforschung. Die im Zentrum von Lansers Studie stehende Kategorie „narrative voice“, die sich auf die Gestaltung von Erzählinstanzen bezieht, eignet sich vorzüglich, um die Wechselwirkung von sozialer Identität und narrativer Form interpretatorisch aufzuweisen und die Ausgangshypothese - „that female voice (..] is a site of ideological tension made visible in textual prac-tices“11- zu belegen. Bei der Entwicklung ihrer Kategorien konzentriert sich Lanser auf Probleme, die in der Narratologie bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben, etwa die Frage, welche ,,forms of voice“ welchen Frauen zu bestimmten Zeiten zur Verfügung standen. Ausgehend von der These, dass Schreiben eine Form von Selbstautorisierung sei („the project of self-authorization […] is implicit in the very act of authorship“)12 analysiert sie v.a. das ambivalente Verhältnis, das Schriftstellerinnen in der patriarchalischen Gesellschaft zu den Manifestationsformen gesellschaftlicher und rhetorischer Autorität und Macht haben, die ihnen zum großen Teil vorenthalten ist. Ungeachtet ihrer Skepsis gegenüber männlicher Vorherrschaft, so Lanser, können Autorinnen nicht umhin, sich konventioneller erzählerischer Strategien zu bedienen und damit oftmals jene Strukturen zu reproduzieren, die sie in Frage stellen wollen: „That is, as they strive to create fictions of authority, these narrators expose fictions of authority as the Western novel has constructed it - and in exposing the fictions, they may end up re-establishing the authority“.13 Zugleich zeigt sich jedoch, dass auch Autorinnen, die sich relativ starkem Druck ausgesetzt sahen, bestehende Geschlechterstereotypen zu bestätigen und vorherrschende Ideologien im Sinne didaktischer Literatur zu veranschaulichen, durch den Einsatz von spezifischen Erzählweisen abweichende, subversive Auffassungen verbreiten konnten.14
17Anhand der Kategorien der Stimme und der Autorität zeigt sich somit beispielhaft, dass die Konzepte der gender-orientierten Erzähltextanalyse weit über die Kategorie ‚Geschlecht‘ hinausreichen und dass dieser Ansatz in der Tat eine Modellfunktion für die Entwicklung einer intersektionellen Erzählforschung haben könnte. Das gleiche gilt für das Bemühen, neue Kategorien für die Beschreibung des Verhaltens und der Funktionen von Erzählinstanzen zu entwickeln, das auch Warhols Beiträge zu-einer feministischen Narratologie prägt.15 Diese liefern bislang die meisten Anregungen für die literaturwissenschaftliche Analyse einer Form von erzählerischer Vermittlung, die besonders bei Autorinnen des 19. Jahrhunderts stark ausgeprägt war. Warhol unterscheidet zwei Ausprägungen von auktorialen Erzählinstanzen, die sie als „distancing narrator“ bzw. „engaging narrator“ bezeichnet. Ähnlich wie Lanser führt Warhol damit neue Begriffe für etablierte Typen von Erzählinstanzen ein, die sich durch einen hohen Grad an Ablösung von der erzählten Welt auszeichnen und die aufgrund ihrer Kommentare, Wertungen, Generalisierungen und Leseranreden als konkret fassbare Sprecher/innen rezeptions- und sympathielenkend in Erscheinung treten. In den etablierten Modellen werden solche Erzählinstanzen unter Kategorien wie ‚auktoriale Erzähler‘, ‚heterodiegetische und explizite Erzähler‘ oder overt narrators subsumiert. Im Gegensatz dazu zeigt Warhol zum einen, dass eine Differenzierung zwischen distancing narrators und engaging narrators nötig und sinnvoll ist. Zudem weist sie nach, dass es signifikante Unterschiede in deren Verwendung und Gestaltung in Romanen von Autoren und Autorinnen gibt.
18Der zusätzliche Erkenntnisgewinn, der aus der Verbindung von Kategorien der Narratologie und feministischem Erkenntnisinteresse resultiert, besteht weniger in einer bloßen Ergänzung oder Korrektur etablierter erzähltheoretischer Modelle als in der erhellenden Korrelierung von Erzählverfahren, geschichtlichem Kontext und Einsichten in die narrative Konstruktion von soziokulturellen Differenzen, Durch die Zusammenschau von erzählerischen Verfahren, literarischen Produktionsbedingungen und sozialer Ideologie zeigt etwa Lanser, dass narrative Formen keine überzeitlichen Idealtypen darstellen, sondern historisch und kulturell bedingt sind und dass sie maßgeblich zur narrativen Konstruktion von Autorität und Machtverhältnissen beitragen. Mit der Einbeziehung der materiellen und ideologischen Schwierigkeiten, mit denen sich schreibende Frauen konfrontiert sahen, trägt sie der Tatsache Rechnung, dass Romane von Frauen in hohem Maße von nichtliterarischen geschlechtsspezifischen Umstanden beeinflusst worden sind.
19Die weiterreichenden Einsichten, die sich aus diesen exemplarisch genannten Studien für eine narratologisch fundierte Intersektionalitätsforschung ziehen lassen, kann man etwa so zusammenfassen. Bei Warhols Studie liegt der Erkenntnisgewinn, der aus der Verbindung erzähltheoretischer und feministischer Überlegungen resultiert, erstens darin, dass zusätzliche Kategorien für einen zentralen Teilbereich der Narratologie – die Gestaltung und Funktionen heterodiegetischer Erzählinstanzen – bereitgestellt werden. Damit schafft dieses Modell zweitens die Voraussetzung dafür, synchrone und diachrone Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Erzählweise in Romanen von Frauen und Männer präziser zu benennen, als es bisher möglich ist. Drittens ermöglichen Untersuchungen der Funktionen von Erzählinstanzen, die Warhols Kategorien berücksichtigen, differenziertere Analysen von Homologien zwischen Aspekten des Voraussetzungssystems von Autor/innen und der Perspektive von Erzählinstanzen und anderen textuellen Sprechern, an die Aussagen delegiert werden. Solche Homologien sind bislang sowohl in der Erzähltheorie als auch bei konkreten Textinterpretationen allzu pauschal unterstellt worden. Warhols Ausdifferenzierung von Erzählinstanzen zeigt exemplarisch, in welcher Weise feministische Überlegungen erzähltheoretische Modelle modifizieren und ergänzen können, wenn sie deren historische Kategorien und Problemstellungen historisieren und kontextualisieren.
20Nicht minder aufschluss- und anregungsreich für die narratologische Intersektionalitätsforschung als die recht differenzierten Typologien von Erzählinstanzen, die die feministisch orientierte Narratologie entwickelt hat, ist die Frage, inwiefern sich Romane von Frauen durch Besonderheiten im Bereich der Bewusstseinsdarstellung und Fokalisierung auszeichnen. Dies ist jedoch bislang noch nicht erörtert worden: Weder die differenzierten Analysekategorien, die Dorrit Cohn für die Beschreibung der narrativen Verfahren für die Wiedergabe von Bewusstseinsyorgängen in Erzähltexten bereitgestellt hat,16 noch Gerard Genettes Untcrscheidung von narration und focalization17 sind in feministischen oder intersektionellen Arbeiten bisher aufgegriffen und angewendet worden.
21Die aus dieser Unterscheidung und späteren Modifizierungen abgeleiteten Kategorien eröffnen vielfältige und bislang ungenutzte Möglichkeiten, um narrative Konstruktionen von Differenz präziser zu beschreiben, als es in feministischen oder intersektionellen Arbeiten bisher meist üblich ist. Einige der Fragen, die sich nicht nur für eine feministische und gender-orientierte Narratologie, sondern auch für eine narratologisch fundierte Intersektionalitätsforschung in Zukunft stellen, seien daher kurz umrissen. So ermöglichen es Genettes Kategorien, präzise Aussagen über die Art und Weise sowie die Distribution der Innenweltdarstellung in Romanen von Autoren und Autorinnen zu treffen. Da sich die Fokalisierung in Texten beliebig häufig und in mannigfaltiger Weise ändern kann, lassen sich auch die jeweils realisierten Möglichkeiten des Wechsels der Fokalisierungsebenen und Fokalisierungsinstanzen genau beschreiben. Ein Rückgriff auf Cohns und Genettes Kategorien schafft daher die Voraussetzung dafür, bei der Textanalyse zu präzisen interpretatorischen Ergebnissen über den Zusammenhang zwischen den Techniken der Bewusstseinsdarstellung (z.B. erlebte Rede, innerer Monolog) und deren Wirkungspotenzial z.B. im Hinblick auf die Sympathielenkung in Romanen zu gelangen.