Nr. 6, 7 & 25, Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype
[Traduction d’Élisabeth Darrobers et de Calann Heurtier]
Nr. 6 : Der erkrankte Planet
1Im Jahr 1992 wurde ein neues Wort kreiert: ,Erdsicht‘. Eine Bonner Ausstellung, in der ,Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland‘, dem Regierungsviertel gegenüber untergebracht, hatte den Untertitel ,Global Change‘ und hieß ,Erdsicht‘.
2Das Wort hat mich beunruhigt. Es klingt nicht ganz irdisch, ist es auch nicht. Wer sieht hier? Im ersten Raum dreht sich auf drei Leinwänden der Planet, sieht man, durch Knopfdruck heranholbar, filmähnlich, das Roden des Regenwaldes und den Anstieg der Meere, das elektrifizierte Europa bei Nacht und das Austrocknen des Aralsees, das Ozonloch und das Abschmelzen der Eiskuppe in der Antarktis. Kein bedrängendes Thema ausgelassen, eine Totale in jeder Hinsicht. Der Eindruck der Objektivität wurde dadurch verstärkt, daß eine deutsche Nachrichteninstitution, Hans Joachim Friedrichs, den Kommentar sprach.
3Aber eine Tafel macht darauf aufmerksam, daß ,Sicht‘ hier nur bedingt von Sehen abzuleiten sei. „Satellitendaten bilden die Ausgangsbasis für die Animationen von ,Global Change‘. Hunderte von Einzelbildern amerikanischer Wettersatelliten wurden durch eine spezielle Computertechnik zu einem einheitlichen dreidimensionalen Mosaik der Erde verschmolzen. Die Wolken wurden entfernt, Farben und Dunst hinzugefügt. — Sie haben die Möglichkeit, 12 Regionen auf der Erde anzufliegen." Es sind also Animationen, dreidimensionale Mosaike. Den Daten aus dem Weltraum wurde ein irdisches Kunstleben eingehaucht. Die Autoren des Katalogs werden nicht müde, dem Eindruck entgegenzuwirken, das Sehen sei in diesem Fall ein Sehen, und legen größtes Gewicht darauf, zu zeigen, daß es sich um einen komplexen Vorgang, eine Tätigkeit handelt; es ist ein Registrieren von Daten, die dann computertechnisch analysiert und in ein für das menschliche Auge erkennbares und an seine Sehgewohnheiten angepaßtes Objekt transformiert werden. Die Sensoren der Satelliten unterscheiden sich in ihrer Rezeptionsbreite und in ihrem Rezeptionstyp gründlich vom menschlichen Auge. Und die Verarbeitung der Daten ist das Filtern einer Datenflut, Auswahl, das Übereinanderblenden einer Serie von Aufnahmen, deren scharfe Konturen ein Rechenresultat sind. „Auch Daten, die in dieser Form nie aus dem Weltraum gewonnen worden sind, sonder auf anderem Wege gewonnen wurden, können dermaßen verarbeitet werden. So kann ein topographisches Modell der Erde dergestalt auf eine Kugel projiziert werden, daß es erscheint wie ein Weltraumfoto“ (S. 47)
4Das heißt:
5Die Weltraumbilder haben einen neuartigen Status. Sie sind kein ,Bild‘ in dem älteren metaphorischen Sinn, wie es der Reichsapfel in der Hand des Herrschers war oder der ,merigarto‘, Meergarten, als Bild der Erde, der uns im 12. Jahrhundert begegnet, auch kein Abbild, wie es, einem Spiegelbild vergleichbar, die Linse in Teleskop, Mikroskop und Kamera zu erzeugen vermag, weder Bild noch Abbild, sondern — was? Ein ‚Puzzle‘ nennen es die Aussteller, ein ,Mosaik‘, komponiert, addiert und subtrahiert, errechnet und unserer Anschauungswelt nachträglich eingeformt: Synbilder. Man muß die Idee der Spiegelung verabschieden.
6Die ,Erdsicht‘ zielte bei jener Ausstellung in jedem Fall auf die Totale. Die Schöpfer des Wortes hatten ganz recht, die kleine Silbe ,an‘, die ein Verhältnis im Raum und in der Zeit bezeichnet, wegzulassen. Mit Raum und Zeit hat es hier eine besondere Bewandtnis, man kann mit ihnen schalten, sie sind äußerst mobil geworden, von beachtlicher Verfügbarkeit. Das Sehen, ganz abgesehen davon, daß es keines ist, ist kein (wie es die Grammatik vorsah) in der Zeit verlaufender Vorgang, keine Tätigkeit, die durch Standort und Blickwinkel lokalisierbar ist. Ein Rundbild des Rheins, von der niederländischen Grenze bis Karlsruhe, ein Panorama, wird kommentiert: „Da der Satellit (Landsat) nur alle 18 Tage über das gleiche Gebiet fliegt, benötigt man für die Herstellung eines wolkenfreien Mosaiks unter Umständen mehrere Jahre“. Die Zeit geht nicht ein in das Bild, so wenig wie das Raumverhältnis. Es ist aperspektivisch. Das Raumgefühl angesichts dieser Bilder hat etwas Paradoxes. Es sind Phantombilder aus dem Jenseits, die sich da, nahe, klein und betreuungsbedürftig, vor uns drehen. Je ferner, umso näher. Es macht die astronomische Entfernung, daß sie uns so handlich entgegenkommen.
7Der aus astronomischer Ferne aufgenommene Planet wird nicht nur handlich, sondern auch verfügbar. „Das Bild vom blauen Planeten — ist er nicht klein und überschaubar? — suggeriert die Planbarkeit eines Geschehens, das bisher der menschlichen Existenz vorgegeben war“, schreibt Wolfgang Sachs in seinem fabelhaften Aufsatz ,Satellitenblick‘, dem ein anderer, ,Der blaue Planet. Zur Zweideutigkeit einer modernen Ikone‘, zur Seite steht. „Es besteht eine deutliche Affinität zwischen dem Bild von der Erde und den Ambitionen auf ein Management des Planeten“1. — Ob das Wort ,Erdsicht‘ durchdringen wird?
8Die Erdsicht herrscht auf der Erde, das ist das Paradox, und nach dem Durchgang durch die Ausstellung konnte man auf den Gedanken kommen, ‚Erde‘ sei in dieser Verbindung nicht nur als gesehenes Objekt, sondern mit gleichem Recht als sehendes Subjekt gemeint: nicht nur ein Erleiden der Erde, sondern auch ein von ihr ausgehendes Ergreifen, in dem ihre Perspektive vorherrscht. ‚Erd-‘ wird hier zu einer Art Vorsilbe, wie in Fernsicht und Nahsicht, die das Grundwort ,Sicht‘ näher kennzeichnet. Im letzten Raum, während sich Venus, Erde, Mars auf drei Leinwänden drehen, hört man als Letztes, und es läuft einem warm den Rücken herunter: „Zeit zur Einsicht, zur Erdsicht“. Ein solcher Begriff setzt allerdings ihre Einheit voraus, sie muß zum Subjekt zusammengeschlossen sein, wenn ‚Erdsicht‘ ein solcher Genitiv des Subjekts Erde oder, fachlich gesprochen, „Genitivus subiectivus“ sein soll.
9Man entschuldige diese peniblen Überlegungen, aber in den kleinen grammatischen Besonderheiten, die das Wort ,Erdsicht‘ beherbergt, wird eine weitreichende Verschiebung des Blicks und der Begriffe erkennbar, ein Knick in der Linse. Die doppelte Erdsicht, von oben und unten, ist eine veränderte Weichenstellung.
Nr. 7: Die exponentielle Weltbevölkerungskurve
10Das Thema in den nächsten Räumen war die Weltbevölkerung, und hier bediente man sich einer anderen Technik der Veranschaulichung: der Installation.
11Ein Erdrelief auf dem Fußboden zeigte die ansteigende Menschheit, Megastädte, die sich als Mount Everest ausnahmen: an der Wand erhob sich als Menetekel eine rote Linie, die exponentielle Bevölkerungskurve. Für das Jahr 2.100 sind danach zwanzig Milliarden Menschen anzunehmen.
12Ein makabres Spielzeug steht in einem kleinen Raum. Hier ist die Erde als gläserner Kubus symbolisiert, in dem grüne Styroporkugeln sich vermehren und der unten durch ein gläsernes Rohr von den gleichen Kugeln verlassen wird. Die Zahl der Neuzugänge, die oben hineinfallen, Symbole der neuen Erdenbürger, ist konstant größer als die Zahl derer, die sich unten verabschieden. Das Verhältnis ist 4,8 zu 17 pro Sekunde, die Sekundenzähler der Geburtenrate vor den vier Seiten des Kubus laufen dreimal so rasch wie die der Sterberate… Der Kubus ist zu zwei Dritteln gefüllt.
13Eine Schulklasse geht durch, einige mit eingezogenen Schultern, andere scherzend. „Wahnsinn. Das geht doch nicht.“ „In einer Weise beruhigend. Wenn bei einer Umweltkatastrophe 20.000 umkommen“, meint eine jüngere Stimme und deutet lächelnd auf den Zähler, „macht das nichts aus.“
14„Ja“, sagt ein Älterer. „Im Zweiten Weltkrieg sind 50 Millionen umgekommen, aber nachher gab es mehr Menschen als vorher.“
15An der Wand hängt ein Videogerät, das auf Knopfdruck das Wachstum der Weltbevölkerung vom Jahre 1 bis zum Jahr 2020 illustriert. Ein weißer Punkt auf den schwarz abgebildeten Erdteilen steht für eine Million Menschen, unten wandelt sich eine Zahlenreihe und daneben der historische Fahrplan: „410 — Fall of Rome… 951, 952, 953… 1000 — Vikings“. Die dunkle Landkarte ist zuerst nur spärlich von weißen Punkten besetzt und bleibt lange konstant, Indien, China sind dichter belegt, bis mit der Neuzeit die Zahl der weißen Punkte in Europa sich vermehrt, seit 1900, dann 1950 rasend zunimmt, so daß überall Land verschwindet und der weiße Überzug Mensch am Ende ganze Erdteile zudeckt.
16Von den Bildern dieser Ausstellung ging ein enormer Objektdruck aus. Das hing wohl auch damit zusammen, daß das, was mitzuteilen war, fast nur durch Gegenständliches gesagt wurde und nicht durch das flüchtige, bewegliche Wort. Die sinnliche Objektivierung erweckt unsinnigerweise den Schein größerer Objektivität. Die Bilder machten Zeit sichtbar, die steile Kurve an der Wand, der sich füllende Kubus, der Film der weißen Punkte veranschaulichte drängende Zeit.
17Und der übermittelte Universalbegriff ,Weltbevölkerung‘ erhielt einen anschaulichen Henkel, wurde handlich und zum Bildkürzel, zur ,Größe‘. Die Figuren drängten, trieben ein Ärmchen hervor, formulierten auf die einprägsamste Weise ein Problem.
18Boten sie auch schon eine Lösung und Strategie an? Einige Besucher faßten die Installationen so auf und ließen sich das nächstliegende Rezept einfallen.
19„Die wollen alle was zu essen haben.“ „Vor allem gehen die alle aufeinander los.“
20Liegt schon im Visiotyp des Blauen Planeten eine Aufforderung, das vertraute handliche Ding im planetarischen Zusammenhang zu betreuen, so wird die exponentielle Weltbevölkerungskurve auf noch direktere Weise zum Imperativ:
21Sie erzeugt Druck in bestimmter Richtung, ist gleichsam eine in einen Pfeil umgewandelte Zahl.
22Die beiden Visiotype, ‚Der erkrankte Planet‘ und ,Die exponentielle Weltbevölkerungskurve‘, stimmen in ihren Merkmalen weitgehend überein. Das wäre nicht unbedingt zu erwarten; haben wir es mit einem typischen öffentlichen Begriffsprofil bzw. Anschauungsprofil zu tun?
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Sie haben einen globalen Radius;
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eine abstrakte, sinnenferne, digitale Datengrundlage;
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sind von spielzeugartiger Konkretheit:
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sie sind gekennzeichnet durch die Vorstellung unendlicher linearer Bewegung; diese erhält hier verschärft einen Zeitindex;
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sie sind ein unendlich dehnbarer Forschungsgegenstand;
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sie legen den Gedanken eines Eingriffs in das Konstruktionsmodell nahe, sei es durch das planetarische Management ,dieser unsrer Erde‘, sei es durch den Stop mit Hilfe von Kondom, Spirale und Sterilisation oder von Vernichtung;
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sie sind unerschöpfliche Ressourcen des Informationsbedarfs;
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sie sind keine Verheißung, sondern eine allgemeine Drohung;
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sie drängen unbestimmt auf Abhilfe.
23„Stimmt“ aber der in diesen Bildkürzeln vermittelte Begriff? Damit ist nicht so sehr gemeint, ob z.B. die Prognose der Bevölkerungsentwicklung zutreffen kann, obwohl auch diese Frage berechtigt ist, denn es gibt allzu viele Unbekannte, die Zahlen schwanken enorm. Während das rote Menetekel an der Wand von ,Global Change‘ auf 20 Milliarden Menschen am Ende des kommenden Jahrhunderts deutete, berichtet ebenso unvermittelt der eben erscheinende ,Spiegel‘, unter Berufung auf eine Analyse der ,Deutschen Stiftung Weltbevölkerung‘: „Erstmals seit Jahrzehnten stabilisiert sich das Wachstum der Weltbevölkerung, die gegenwärtig etwa 5,72 Milliarden Menschen zählt2“. Die Prognosen für das Jahr 2050 schwanken um 5 Milliarden, also etwa um die Zahl der heute Lebenden.
24Ich meine hier: Stellt das Bildkürzel eine sinnvolle Ausgangsfrage? Stimmt der darin enthaltene Begriff in dem Sinn, daß man mit ihm und auf ihn bauen kann? Ist er umsetzbar in soziales und politisches Handeln? Oder gehört er zu jenen i Abstraktionen, von denen Carl Gustav Jochmann 1829 in einer Glosse über die ,Gefahr politischer Abstraktionen‘ meinte, daß sie zu lächerlichen Mißdeutungen Anlaß gäben und dazu verführten, mit ihnen in der Welt der politischen Realitäten umherzufuhrwerken wie der Mathematiker mit bekannten oder unbekannten Größen in seinen Gleichungen3?
25Die Pariser ,Lage‘ vom Frühjahr 1636, bei der Richelieus graue Eminenz mit dem Finger auf der Landkarte die Festungen der Habsburgischen auf dem rechten Rheinufer einnahm und Bernhard von Weimar dazwischenfuhr, „Herr Pater, Ihr Finger aber ist keine Brücke!“, dürfte als Leitmotiv in Frage kommen, wo es sich um gesellschaftliche Abstraktionen von der Größenordnung Erdball und Erdbevölkerung handelt.
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Nr. : 25 Sprachkritik und Bildkritik. Visiotype als soziale Norm
26In der Exposition (Nr. 5) habe ich gemeint, Sprache und Bild seien auf einer derselben Ebene kritikwürdig, auf der Ebene des Sozialcodes. — Das soll hier näher begründet werden, zunächst auf dem Gebiet der Sprache.
27Sprachkritik ist Kritik am Gebrauch der Sprache, an dem, was man in Frankreich usage genannt hat, an der eingeübten oder auch eingerissenen Norm. Das wird oft nicht bedacht, was in der schlichten Entgegnung sich ausspricht, die Sprache sei doch unschuldig, ein bloßes Instrument, man meine ja nur die Sache. Man meint zwar die Sache, aber nicht nur, die Sprache ist durchaus nicht unbeteiligt, sie hat einen auch in dieser Hinsicht doppelten Charakter. Sie ist nach der einen Seite ein scheinbar grenzenlos bewegliches Instrument und nach der anderen eine eingebürgerte soziale Institution, die ziemlich irreführend sein kann, da sie die bahnende Trägheit der Institutionen hat.
28Das beginnt beim Wort als Zugriff, bei der vorherrschenden Norm seines Gebrauchs und endet bei den Gebrauchsregeln der Textgattungen, der Gattungsnorm. Die Instanz der Norm setzt sich auf der Ebene des Gebrauchs durch, indem sie die Vorherrschaft von Varianten begünstigt. Denn die grenzenlose Kreativität der Sprache gilt nur prinzipiell, als Grenzfall und pure Theorie. Sie ist die eine, und zwar abstrakte Wahrheit. Man ist gezwungen, sie anzunehmen, wenn man wie de Saussure von dem schlichten Gegenüber von ‚langue’ und ‚parole‘ von der Sprache als System und der durch dieses System aus Lexikon und Grammatik ermöglichten unendlich und beliebig vielfältigen Rede ausgeht. In der Sprachwirklichkeit ist diese schlichte Dichotomie unvollständig und daher falsch. Sprache ist originär sozial eingebettet, das scheinbar so bewegliche ‚Instrument‘ ebenso grundsätzlich eingeschränkt. Zwischen der Sprache als einem System und der durch dieses System ermöglichten unendlichen Vielfalt wird in jeder konkreten Äußerung eine Instanz wirksam, die der Romanist Coseriu (1970) als ,norma‘ eingeführt hat. Sie hat meist nicht die gleiche unbedingte Obligatorik wie die Regeln der Grammatik, aber sie ist wirksam als soziale und kulturelle Auflage. Sie legt nahe, ein Wort wie ,Entwicklung‘, das im öffentlichen Zusammenhang in einer bestimmten Bedeutung durchgesetzt ist, nur noch in dieser Bedeutung zu hören und zu verwenden. Eine Vielzahl von Denkkonventionen ist der Sprache, vom Wortgebrauch über die Bilder und Redensarten bis zum Satzbau, ihrem Stil eingelagert. Er bestimmt die Sprachmuster der Textgattungen, der sozial verankerten Situationsstile.
29Man muß hier nicht sofort die finstere Macht des ,Diskurses‘ wittern; im Gegenteil. Soziale Normen und Formen sind etwas, was das Leben erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht. Sie sind wie Stützen in die Sprache eingezogen, in einer Kette von Situationen erprobt, umgemodelt und anerkannt; für wahr gehalten. Das überlieferte Bild von der Sprache als Thesaurus, als Schatz, ist nicht zufällig. Ihre bewegliche Ordnung ist ein Speicher an Erfahrung und guten Sitten; in schwierigen Situationen entlastet sie vom persönlichen Ausdruck.
30Das hindert nicht, daß die ,Ordnung des Diskurses‘ ein rigoros genormtes Regelwerk sein kann, das sich, wie Foucault4 annimmt, disziplinierend auswirkt wie eine Polizei, oder daß ein kleiner Satz freundlicher, in bestimmter Weise gebrauchter Schlüsselbegriffe die Gesellschaft mit Bejahung überschwemmen und blinde Zustimmung erlangen kann.
31In den Visiotypen ist die ,Zwischeninstanz‘, von der gerade die Rede war, die Hauptinstanz. Sie sind in noch mehr Hinsichten norma, manchmal geradezu Ausbünde sozialer Norm; daher ihre starke prägende, Normen bestätigende und setzende Wirkung.
32Ludwik Fleck zeigt eindrücklich an visuellen Beispielen, wie Wahrheit als Übereinkunft, als Konsens zustande kommen kann. In dem Aufsatz ,Schauen, Sehen, Wissen5‘ gibt er aus dem Bereich der Instrumentenbilder das folgende Beispiel:
33„Im 19. Jahrhundert entdeckte man unter dem Mikroskop eine ganz neue Welt. Wenn es um die Form einzelner Zellen, um Mikroorganismen geht, ist das Vergleichen leicht, weil sie an einfache Gestalten der Geometrie erinnern: Stäbchen, Kügelchen, Spiralen. Aber wenn es um die Beschreibung von Gruppengestalten, einer spezifischen Struktur geht, die aus der Fortpflanzung der Bakterien folgt, ist die Angelegenheit viel schwieriger, weil man lernen müßte, Gestalten zu sehen, die sich sehr von den im Alltag angetroffenen unterscheiden. Wir können verfolgen, wie die Bilder anfangs oszillierten, wie man verschiedene phantastische, sich verdrängende Gestalten aus dem Alltag sah, wie sich ein Bild festigte, die Anzahl der Vergleiche beinahe von Jahr zu Jahr, von Autor zu Autor abnahm, und wie sich inmitten der Diskussionen und gegenseitigen Korrekturen eine neue festgelegte Gestalt erhob, so deutlich, daß sie selbst zur durch das Kollektiv sanktionierten Schablone wurde, der man sich nachfolgend beim Sehen der der Reihe nach auftauchenden neuen Gestalten bedient.“ — Das ist eine aufschlußreiche Beobachtung. Bilder und Begriffe bilden sich im engsten Austausch einer Gruppe und ihrer Epoche. Erst in den letzten Jahren wird vollständig deutlich, in welchem Maße Haeckels ,Kunstformen der Natur‘, faszinierende, von Künstlern viel bewunderte Zeichnungen der Mikroorganismen des Meeres, Dokumente der Lebensphilosophie des späten 19. Jahrhunderts und des beginnenden Jugendstils sind6.
34Man kann diesen Gesichtspunkt sehr weit treiben und findet, wie die Forschungen jüngerer Zeit zeigen, dafür eine uferlose Zahl von historischen Beispielen.
35Fleck hat das menschliche Auge, ganz unabhängig davon, wie lang die ihm vorgeschalteten Prothesen sind, frühzeitig als Organ einer sich historisch wandelnden Sehgemeinschaft untersucht und seine Sehtätigkeit, seine an einen Epochenblick gebundene Aktivität am Beispiel der Geschichte anatomischer Abbildungen skizzenhaft angedeutet. Illustrationen, Zeichnungen, Abbilder verraten oft mehr über die Zugehörigkeit zu einer Epoche als über die Sache. Die visuellen Zeichen sind für ihn in noch höherem Grad, als es die Sprache für Wilhelm von Humboldt war, Teil einer ,Weltansicht‘. Das zu einer Gestalt kristallisierte Bild ist durch eine konzeptuelle Zwischenwelt getrennt von dem, worauf es deutet. Die Zwischenwelt wird aufgerichtet, sozusagen gegittert von der Gemeinschaft, und zwar auf dem Wege der Einübung von Sehgewohnheiten, des sich einpendelnden Zusammenfassens von Eindrücken zu einer ‚Gestalt‘ oder ‚Schablone‘. Wir sehen, was wir zu sehen gelernt haben. Was der wissenschaftliche Adept vor dem Mikroskop erfährt, erscheint dem erfolgreichen Typhusforscher Fleck als eine Art Einweihung. Ihm widerfährt eine „gerichtete Bereitschaft“: auf Grund von Schulung, wissenschaftlicher Überlieferung und Diskussion in der Gruppe „die spezifische Bereitschaft, eine bestimmte besondere Gestalt wahrzunehmen7“. So bildet sich eine Sehnorm, ein kanonisches Bild. Ein wissenschaftlicher Begriff kann zum festen Überlieferungsgut werden, wenn er im Stilsystem' untergebracht ist. „Die weitere Entwicklung verändert ihn in einen - im Rahmen des Stils - selbstverständlichen Gedanken, in eine spezifische, unmittelbar erkennbare Gestalt, in einen ‚Gegenstand‘, demgegenüber sich die Mitglieder des Kollektivs wie gegenüber einer außerhalb existierenden, von ihnen unabhängigen Tatsache verhalten müssen. So sieht die Evolution dessen aus, was wir ,wirklich‘ nennen8“.
36Fleck erweitert eine den individuellen Beobachter und seine Sinnesausstattung meinende Erkenntnisskepsis, die gegenwärtig viel diskutierte „konstruktivistische“ Kritik, um einen das ,Kollektiv‘ einbeziehenden skeptischen Blick. Sein erkennendes Subjekt ist die Gruppe oder die Gemeinschaft‘, von der er gemeint hat, sie sei, zwischen Subjekt und Objekt, „gefährlich wie eine Elementargewalt“ (vgl. Nr. 15). Er setzt sozusagen sozialkonstruktivistisch an. Was er beobachtet und in scharfsinnigen Begriffen dingfest macht, läßt sich an den wissenschaftlichen und öffentlichen Visualisierungstypen der letzten Jahrzehnte durchaus wiederfinden. Ich habe an vielen Stellen die Nähe der Visotype zur sozialen Norm betont, neige allerdings zu der Ansicht, daß auch Fleck nur einen möglichen Blickpunkt wählt und nur einen Aspekt der Sache ins Visier bekommt. Erhebt man ihn zur allgemeinen Lehre und dogmatisiert diesen Schlüssel zur Wissenschaftsgeschichte, so kommt man rasch in Schwierigkeiten und verfängt sich, gerät in Fallen. Wenn alles nur Geschichte ist…
37Kritiker der Naturwissenschaften, die von hier ihr Instrumentarium entleihen, erweisen sich notwendig als bodenlos: Propheten ohne Botschaft, Sendboten des Nichts. Überdies sind sie ratlos vor der nicht zu leugnenden Erfahrung der Naturwissenschaftler, daß die Natur sich nach ihren Gesetzen und Prognosen richtet. Eine bloße „Harmonie der Täuschungen9“ kann hier doch nicht vorliegen. Eine Art von Erkennbarkeit scheint es doch zu geben (was Fleck gar nicht leugnen würde).
38Einsteins Überzeugung, das Universum beruhe auf Mathematik, es gebe eine prästabilierte Harmonie zwischen einer mathematischen Theorie der physikalischen Welt und der Erfahrung (vgl. Zwischenspiel D, findet ihre Entsprechung, wenn der Logiker, Mathematiker, Physiker Peirce schreibt: „Thought is not necessarily with a brain. It appears in the work of bees, of crystals, and throughout the purely physical world and one can no more deny that it is really there, than that the colors, the shapes, etc., of objects are really there“. Der Geist verkörpere sich freilich in Zichen: „Not only is thought in the organic world, but it develops there. But as there cannot be a General without Instances embodying it, so there cannot be thought without Signs10“.
39Die Position von Peirce ist allerdings schwankend. Ein Autor, dessen Erkenntnistheorie dadurch bestimmt ist, daß das Medium der ,Zeichen‘ in die Mitte rückt, kann nicht einseitig an die ‚Realität‘ des in ihnen Gespiegelten glauben; er bemerkt die Kluft zu ihr. Oehler spricht von seiner schwankenden Mittelstellung zwischen Idealismus und Realismus: „Realismus und Idealismus sind für ihn keine einander ausschließenden Gegensätze, vielmehr sind sie in seinem Verständnis komplementär, indem der Realismus die Objektivität unserer Erkenntnis, der Idealismus die Beziehung zwisehen dem Objekt und unserer Subjektivität betont. Worauf es ihm vor allem ankommt, sind die Erkennbarkeit des Realen und die Verneinung des Dinges an sich. Auf diese Weise vermeidet er die spezifischen Übertreibungen beider Positionen. Er ist nicht nur als Naturwissenschaftler, sondern auch als Philosoph auf Ökonomie des Denkens bedacht. Es konnte freilich nicht ausbleiben, daß er in diesem Balanceakt das eine Mal mehr die eine Position, das andere Mal mehr die andere Position akzentuiert. Diese Oszillation ist für seine Synthese von Realismus und Idealismus typisch11“.
40Die Wahrheit liegt also, mit Jean Paul gesprochen, in der Viertelsmitte. Man findet in der wieder aufgelebten Debatte der letzten Jahre so manche Fürsprecher dieser Position12. Ich teile sie, ohne befugt zu sein, zu der philosophischen Debatte etwas beizutragen. Dies ist ein Versuch über visuelle und sprachliche Zeichen, und da scheint mir: Wenn Peirce, gut liberal und demokratisch, in der Verständigung über Zeichen, in dem Hin und Her, aus dem sich in einer Gemeinschaft eine Vereinbarung über die „richtige“ Bezeichnung ergibt, einen Weg der Wahrheitsfindung sieht13, so ist das wiederum nur die halbe Wahrheit. Der Konsens ist ein Argument, kann aber auch, siehe Fleck, das Gegenteil beweisen.
41Bildkritik ist eine Zerlegung der Visiotype in ihre Elemente, um durch Dekomposition zu fassen, was sie an Wirkungspotential enthalten. Dabei ist für mich von größtem Interesse, den Ubergang vom Wissenschaftswerkzeug zum Sozialwerkzeug zu erkennen, auseinanderzuhalten, was an ihnen der Sacherschließung dient und was soziale Norm ist und die soziale Bedeutung begründet. — Man müßte Fallbeispiele durchdeklinieren.
42Die Figur der Doppel-Helix hat einen hohen Erklärungswert.
43Um den Kern der Wahrheit, den wir auf sich beruhen lassen, legen sich aber wie bei einer Zwiebel mehr als sieben soziale Schalen:
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die Neigung, um nicht zu sagen, der Hang zur Veranschaulichung ist selbst bereits Ausdruck einer sozialen Norm;
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der Anteil sozialer Semantik steigt offenbar mit dem Öfentlichkeitsgrad des Zeichens;
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das Zeichen ist für den Empfänger geregelt, es verschweißt eine Figur und deren Lesart zu einer Gebrauchsnorm; er ist ihm gegenüber: nicht Analphabet, sondern Anikoniker; die Norm wird festgelegt in der ‚scientific community‘ oder, öffentlich, durch machtvolle Institutionen;
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sie folgt, wissenschaftlich oder auch öffentlich, einem Stil der Epoche und ihren sich entwickelnden technischen Standards, spielt sich ein oder wird dekretiert;
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im Fall des universellen Visiotyps wird die soziale Bedeutung u. a. hergestellt durch ubiquitäre Präsenz; das ist nicht anders als bei den allgegenwärtigen Bildern Lenins; durch die Anlehnung an einen alten Bildervorrat, ein Praeidol;
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durch eine Zeitfarbe;
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durch den mit ihm verbundenen Gefühlshof von Drohung und Verheißung, der im Klima der Gesellschaft vorhanden ist oder in sie implantiert wird…
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durch das Riesenfeld der Anwendung, den praktischen Nutzen.
44Die sozialen Schalen der Zwiebel sollten nur angedeutet werden. Mit ihrer Hilfe können die Keime der Visiotype zu Kristallisationspunkten des Zeitbewußtseins und der sozialen Wirklichkeit, zur Großmacht werden. - Gegenüber diesem Gewicht der sozialen Norm kann es so aussehen, als gebe es keine andere Wahrheit als die geschichtlicher Übereinkunft. Man muß sich aber, bevor man so weitreichende Schlüsse zieht, sehr genau verständigen, was man unter Übereinkunft versteht:
45Man könnte darunter verstehen, daß die Wirklichkeit eine Konstruktion ist. Daß sie in der auf Zeit gültigen Vereinbarung von Individuen ihren Ursprung hat. Dies wäre die weitreichendste, eine prinzipielle Hypothese. Sie bleibt hier außen vor.
46Man könnte aber auch „nur“ den geschichtlichen Aspekt der Übereinkunft meinen, ihren Ausbreitungsprozeß ins Auge fassen, und diesen in den drei sozialen Einrichtungen Forscherteam, Wissenschaft und Gesellschaft verfolgen:
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der Gegenstand der Erkenntnis, ,die Natur‘, sei mehrdeutig. In ihrer Auffassung begegnen sich im Einzelfall die Spiegelung einer Seite des Objekts und ein Wahrnehmungsschema einer Gruppe;
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der ,Gegenstand‘ sei mehrdeutig; ihm steht aber in ,der‘ Wissenschaft ein einheitliches Erkenntnismodell, eine verbindliche Spielregel der Wahrheitsfindung, eine vorherrschende Perspektive gegenüber. Jetzt begegnen sich in der Auffassung des Gegenstandes' die Spiegelung einer Seite des Objekts und eine zweifache Übereinkunft: die des konkreten, sich in einer Gruppe einspielenden Wahrnehmungsschemas und die der allgemeinen Wahrnehmungsrichtung, des Erkenntnisideals14 oder Paradigmas (Thomas S. Kuhn 1967);
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der ,Gegenstand‘ sei mehrdeutig; ihm steht aber in ,der‘ Gesellschaft ein allgemein durchgesetztes konkretes Wahrnehmungsschema wie die ,Doppel-Helix‘ und eine weitgehend verbindliche Wahrnehmungsrichtung wie die Biophysik gegenüber. Jetzt begegnen sich in der Auffassung des ,Gegenstandes‘ die Spiegelung einer Seite des Objekts und eine dreifache Übereinkunft: die des konkreten Wahrnehmungsschemas, die des Erkenntnismodells und die ihrer allgemeinen Geltung.
47Die Norm der wissenschaftlichen Erfassung des Gegenstandes ist umgeschlagen in eine allgemeine Denkform und soziale Norm. Was herauskommt als Ansicht des Gegenstandes, ist nicht notwendig unwahr, aber wahrscheinlich wissenschaftlich und öffentlich beglaubigte, zementierte Einseitigkeit.