Baggesen als europäischer Kosmopolit
1Lilas Imbaud — Jens Baggesen (1764-1826) dichtete sowohl auf Dänisch als auch auf Deutsch, und übersetzte (sich selbst und andere) in die zwei Sprachen – und auch gelegentlich ins Französische. Der Sprachwechsel wurde bei ihm zum Programm, und er nannte es sogar „auf Europäisch schreiben“. War diese Mehrsprachigkeit ein verbreitetes Phänomen zu dieser Zeit (in Dänemark und in Europa), oder ist es eher eine Besonderheit Baggesens?
2Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann — Baggesen lebte in einer Übergangszeit. Er gehörte einem gebildeten, kosmopolitischen bürgerlich-adeligen Kreis um den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg an, in dem Mehrsprachigkeit eine Selbstverständlichkeit war. Dieser Gönnerkreis förderte nicht nur ihn, sondern u.a. auch Friedrich Schiller (der daraufhin die Augustenburger Briefe schrieb, welche zur Grundlage der Briefe Über die ästhetische Erziehung wurden). Die Orientierung dieser Gruppe an der deutschen Kultur war nicht nationalistisch geprägt, sondern verstand sich als Öffnung zum Internationalen, Aufklärerischen, Klassischen. Insofern war dieses Milieu schon etwas Besonderes, wenn auch nicht einzigartig. In Deutschland spielte Französisch zeitweilig eine ähnliche Rolle. Außerdem umfasste der dänische Gesamtstaat damals noch Schleswig-Holstein und Norwegen; das Selbstverständnis war ein anderes.
3Baggesen profitierte von dieser Öffnung, denn obwohl er aus einfachen Verhältnissen stammte, wurde er finanziell unterstützt, reiste viel durch Europa und hatte zwei binationale Ehen mit Schweizerinnen, mit denen er zu Hause Deutsch bzw. Französisch sprach. Er erhob den Kosmopolitismus und die Mehrsprachigkeit zum literarischen Programm, und es fehlte ihm nicht an kämpferischem Geist. Andererseits hatte er das Unglück, zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu erleben, wie die Geschmacksästhetik schrittweise von einer nationalistisch geprägten Literaturgeschichtsschreibung ersetzt wurde, welcher schließlich der nicht-dänische Teil seiner Werke zum Opfer fiel.
4Lilas Imbaud — Baggesen wurde schon zu seiner Lebzeit als „Dänischer Wieland“ bezeichnet, nach dem deutschen Aufklärer Christoph Martin Wieland (1733-1813). Was hat es mit dieser Benennung auf sich? Welche wären die Berührungspunkte zwischen den zwei Autoren?
5Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann— Sein literarisches Erstwerk, Comiske Fortællinger (1785), war von Wielands Comischen Erzählungen von 1765 inspiriert und hatte einen so großen Erfolg, dass es ihm diesen Beinamen einbrachte. Es handelt sich um ironische, mitunter frivole Verserzählungen, u.a. nach antikem Vorbild. Tatsächlich sah Baggesen Wielands witzigen, bald parodierenden, bald gefühlvollen, hintergründigen Stil und seine Virtuosität der Vers- und Reimgestaltung lange als sein Vorbild an. Erst 1807 distanzierte er sich von seinem Frühwerk und behauptete, sich ab nun an Goethe zu orientieren – was jedoch fragwürdig ist, denn die Goethenachahmer hat er immer ironisiert. Sein deutschsprachiges, humoristisches Epos Adam und Eva von 1826 trägt eigentlich immer noch Spuren dieser Bewunderung für Wieland. In den Jahren 1790-1794 hatte er auch persönlichen Kontakt zum deutschen Dichter, er wohnte sogar bei ihm, als er in Weimar zu Besuch war.
6Lilas Imbaud — War der Vergleich nur positiv gemeint?
7Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann — Keineswegs. Denn Baggesen geriet in den Streit um die deutsche Kulturhegemonie, der sich damals in Kopenhagen entfachte, und in dem die sogenannten „Skandinavisten“ (welche den Einfluss der deutschen Literatur kritisierten) schließlich über die „Holsteinisten“ siegten. Die Nachahmung des Deutschen und das Schreiben auf Deutsch wurden heftig abgelehnt, genauso wie auch die adeligen deutschen Kreise politisch angefeindet wurden. Und der Konflikt mit den damals sehr einflussreichen Literaturkritikern Peter Andreas Heiberg, Knud Lyne Rahbek und Peder Hjort schadete Baggesen, der ihren Erwartungen nicht entsprach, genauso wie er später die nationalen Vorstellungen der Romantiker aufgrund seiner aufklärerischen Grundsätze entschieden zurückwies.
8Lilas Imbaud — Baggesen hat auch Wieland adaptiert, als er das Libretto der Oper Holger Danske nach Wielands Oberon und Glucks La rencontre imprévue schrieb. Die Uraufführung am 31. März 1789 löste in Kopenhagen einen heftigen Streit aus, die sogenannte „Holgerfehde“. Warum das?
9Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann — Seine Oper Holger Danske trug den Namen eines dänischen Nationalhelden: Ogier le Danois, der erstmals in den französischen chansons de geste als treuer Ritter Karls des Großen erwähnt wird, und laut dänischem Volksglauben aus seinem Schlaf auferstehen wird, wenn Dänemark in Gefahr ist, um sein Land zu retten. Man denke an die sehr ähnliche Mythologisierung Friedrich Barbarossas im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Nicht zufällig wurde im Zweiten Weltkrieg eine dänische Widerstandsgruppe Holger Danske getauft. Diese Figur mit der Handlung von Wielands Oberon zu verbinden, erschien als Sakrileg, zumal auch die Gattung der Oper als fremd empfunden wurde. Denn es gab noch keine Operntradition in dänischer Sprache. Daher wurde Baggesens Libretto, trotz großem Publikumserfolg der Musik bei der Uraufführung, von den führenden Theaterkritikern prompt als Holger Tydske (Holger der Deutsche) satirisiert. Dass der Komponist Friedrich Ludwig Æmilius Kunzen aus Deutschland stammte, trug wohl zu diesem Kulturkampf bei. Die Angriffe waren so stark, dass die Oper nach nur sechs Vorstellungen abgesetzt wurde und sowohl Baggesen als auch Kunzen Kopenhagen fluchtartig verlassen mussten. Baggesen trat eine lange Europareise an, die freilich seinen Kosmopolitismus weiterhin stärkte, denn er behauptete ab nun, dass der wahre Patriot immer auch Kosmopolit sei. Er erklärte sich programmatisch zum „Bürger im Reich der Vernunft”.
Baggesen als Übersetzer
10Lilas Imbaud — 1789 scheint für Baggesen ein Schlüsseljahr gewesen zu sein. Sie schreiben tatsächlich in Ihrem Aufsatz, dass nach einem literarischen Durchbruch mit dänischen Versen und humoristischen Erzählungen, Baggesen erst in diesem Jahr 1789 durch seine Übersetzung des 1741 erschienenen Romans Nicolai Klimii Iter Subterraneum (Niels Klims underjordiske Rejse) von Ludvig Holberg (1684-1754) aus dem Lateinischen ins Dänische die Anerkennung der dänischen Intellektuellen gewann. Wie erklären Sie diesen Erfolg?
11Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann — Tatsächlich war Baggesen dank dieser Übersetzung auf dem besten Weg zum Ruhm, bevor die Holgerfehde ausbrach. Der Roman erschien in einer Prachtausgabe und erhielt sofort den Ruf eines literarischen Monuments, denn Baggesen hatte die Sprache modernisiert und die Aktualität dieser utopischen Reisebeschreibung dadurch besonders hervorgehoben. Er selbst war besonders stolz auf die kreative Übersetzung der klassischen Verszitate, deren Intertextualität auf Dänisch ja sowieso nicht mehr direkt erkennbar gewesen wäre. Statt auf die wörtliche Genauigkeit zu achten, hatte er daher durch Umschreibung pointiert auf die Wirkung gesetzt, und nebenbei auch einige der frühesten Beispiele dänischer Hexameter produziert. Mit Ausnahme einiger damals bereits vergessener Gelegenheitsdichter des Barock hatte sich noch niemand daran gewagt, in dänischen Hexametern zu schreiben. Die Rezensenten waren von der sprachlichen Modernisierung begeistert und betonten, dass Baggesen den Inhalt des Originals so wiedergegeben habe, wie ihn ein zeitgenössischer dänischer Autor ausgedrückt hätte.
12Lilas Imbaud — Und würden Sie sagen, dass Baggesen generell eher als Übersetzer denn als Schriftsteller anerkannt wurde? Oder war vielleicht eine solche Unterscheidung für ihn und seine Zeitgenossen irrelevant?
13Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann — Baggesen selbst unterschied nicht immer zwischen Übersetzung und Aneignung und sah Niels Klim als sein eigenes Werk an. In einer Widmung an seinen Sohn August nannte er es sein kostbarstes und bestes dänisches Buch. Wichtig war ihm, der aus dem Geist der Empfindsamkeit schöpfte, dass beides, sowohl die eigenen Werke als auch die Übersetzungen, vom Enthusiasmus getragen wurden und das Resultat eines begeisterten poetischen Furors waren, der ihn mit in die fremde Kultur hineintransponierte, so dass er „sich selbst übersetzte“ (hineinversetzte). Kreative Übersetzungen waren bis zur Romantik, die den Sinn für Historizität und für das Nationale schärfte, viel verbreiteter als heute und die (vermeintliche) Wirkungstreue galt als wichtiger denn die Worttreue.
14Dass Baggesen in Dänemark für seine eigenen Werke nicht immer die Anerkennung fand, die seiner Übersetzung von Niels Klim zuteil geworden war, liegt einerseits an den Folgen der Holgerfehde, die auch seine Entscheidungen in Bezug auf die Sprachwahl prägten und seinen polemischen Geist schärften, und andererseits an seinem Festhalten an Aufklärung und Empfindsamkeit, das ihn zu antiromantischen Satiren bewegte, als die Romantik längst schon kulturell maßgeblich geworden war.
15Lilas Imbaud — Nach dem Streit um Holger Danske und seiner darauffolgenden Abreise aus der dänischen Hauptstadt lernte Baggesen in Deutschland Johann Heinrich Voß (1751-1826) kennen, der selbst aus dem Griechischen, Lateinischen und Französischen ins Deutsche übersetzte; der darauffolgenden lebenslangen Freundschaft zwischen den zwei Kritikern widmeten Sie 2014 einen Aufsatz. Wie wichtig war dabei die Rolle der Übersetzung?
16Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann— Vossens Homerübersetzungen werden auch heute noch gelesen, und für die damalige Zeit stellten sie einen neuen Maßstab an Gelehrtheit und Natürlichkeit dar. Darum bewunderte Baggesen ihn auch sehr, und er strebte nach dessen Anerkennung, als er selbst den Homer ins Dänische zu übersetzen anfing. Zu seiner großen Freude fand Voß seine dänischen Hexameter richtig. Der Austausch zwischen den beiden war herzlich und intensiv. Voß publizierte Texte von Baggesen, und Baggesen übersetzte Gedichte von Voß ins Dänische. Der deutsche Dichter arbeitete damals an der Übersetzung von Vergils Georgica, in deren Vorwort er erstmals seine Hexametertheorie darstellte, und darum kreiste ein bedeutender Teil des Austauschs um metrische Fragen. Aber eigentlich ging es darum, durch die Förderung antikisierender Dichtungsformen ein klassisches Bildungsideal durchzusetzen. Durch dieses gemeinsame Ideal fühlten sie sich verbunden, und um es zu verteidigen, begannen sie auch eine bissige und witzige antiromantische Polemik, indem sie etwa die von den Romantikern bevorzugten Sonette als leeres „Geklingel“ ablehnten, und ihnen die Hexameter entgegensetzten.
17Lilas Imbaud — Voß ist dafür bekannt, den antiken Hexameter mit seiner Abfolge von langen und kurzen Silben der deutschen Sprache angepasst zu haben, und Sie erklären in Ihrem Kapitel zu „Jens Baggesen und die Begeisterung als Legitimierung des kreativen Übersetzens“, dass der dänische Dichter von dieser Theorie beeinflusst worden ist. Woraus besteht der Unterschied zwischen dem antiken und dem deutschen bzw. dänischen Hexameter (bei Voß und Baggesen)?
18Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann — Eingeteilt werden die Verse im Dänischen, wie im Deutschen, nach der Anzahl der Hebungen, das heißt nach der Anzahl der akzentuierten Silben. Dies zu erkennen war historisch keine Selbstverständlichkeit. Denn im Griechischen und Lateinischen teilt man sie nach der Anzahl der langen Silben ein, im Französischen nach der Zahl aller Silben. Dass die Verse im Deutschen durch die Hebungen bestimmt werden, hat erst Martin Opitz im Buch von der deutschen Poeterey von 1624 herausgefunden. Doch bei Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen wirkte das quantitierende (silbenmessende) Versprinzip der klassischen Sprachen noch im 18. Jahrhundert teilweise verwirrend, was entweder unnatürliche Betonungen mit sich brachte, oder Füllungen, die inhaltlich vom Original abwichen.
19Voß kritisierte in mehreren Streitschriften diejenigen Übersetzungen, die nur auf das Metrum achteten, aber auch die Freiheiten in Klopstocks Hexametern, wo der Sinn allein die Perioden bestimmte. Er untersuchte auch die Abweichungen bei Homer und Vergil, stellte dafür Regeln fest und beschrieb sie. Rhythmus und Reichtum des Wohllauts sollten bei der Übersetzung im gleichen Maße beachtet werden; willkürliches Füllen der Versfüße und Ausdehnungen gegen den deutschen Sprachgebrauch werden abgelehnt. Das Verhältnis der Längen, insbesondere derjenigen, die in einer Hebung stehen, zu den umgebenden Vokalen und Konsonanten beschäftigte ihn, um den nötigen Wohlklang zu erreichen. Baggesen hatte das Problem, dass es vor ihm nur wenige Hexameterdichtungen auf Dänisch gegeben hatte, und er deswegen daran zweifelte, dass die dänische Sprache analog zur griechischen funktionieren könne. Diesen Unterlegenheitskomplex überwand er mit Vossens Hilfe.
20Lilas Imbaud — Und funktionieren in dieser Hinsicht die zwei germanischen Sprachen ganz ähnlich, oder sind dabei Abweichungen zu bemerken?
21Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann — Das metrische Einteilungsprinzip funktioniert ähnlich. Doch obwohl Baggesen oft auf Voß verwies und dessen Zustimmung erlangte, hat er zumeist die potenzierende Funktion des Hexameters bei Klopstock nachgeahmt. Er war also in der Praxis nicht so rigoristisch wie Voß, oder er konnte es nicht sein. Dennoch behauptete Voß, dass Baggesen einer der einzigen zwei Menschen gewesen sei, die seine Hexametertheorie verstanden und musterhaft nachgeahmt hätten. Der andere war ein schwedischer Autor, Carl Gustaf von Brinkmann. Daraus schlussfolgerten diese, dass die nordischen Sprachen sich ebenso gut, wie die deutsche, für die Übersetzung und Nachahmung antiker Autoren eigneten, was sie in ihrem Bildungsideal sehr beflügelte.
22Lilas Imbaud — In Ihrem Kapitel erklären Sie auch, Baggesen sei nicht nur von dem metrische Präzision verlangenden Voß beeinflusst worden, sondern auch von Friedrich von Stolberg (1750-1819), der „versuchte […], den Unterschied zwischen Inspirationspoesie (selbst bei Übersetzungen) und philologischer Treue zu verteidigen und damit kreative Übersetzungen zu rechtfertigen“ [S. 139]. Ist dieser doppelte Einfluss nicht widersprüchlich? Wie ist Baggesen konkret vorgegangen, als er selbst übersetzte?
23Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann — Es handelt sich in der Tat um einen Widerspruch, denn Stolberg, der die Ilias übersetzt hatte, stritt sich mit Voß darüber, ob ein genialer Dichter (als Übersetzer) der Korrektur bedürfe, wenn er in intuitiver Begeisterung, und nicht nach Absicht, Regeln und philologischen Skrupeln arbeite. Er glaubte daran, dass die erste Eingebung die bessere sei, da sie im Zustand des Enthusiasmus entstehe, während Voß auf philologische Genauigkeit und Überarbeitungen setzte. Auch Baggesen, der mit beiden befreundet war, glaubte an die Begeisterung als treibende Kraft der Übersetzung, genauso wie Friedrich von Stolberg, aber er setzte gleichzeitig großen Wert darauf, Vossens Ansprüche zu erfüllen, und nach allen Regeln der Prosodie zu arbeiten. Seinen Übersetzungsprozess beschreibt er als Rausch, in dem er, vom „Genius der Sprache“ inspiriert, schweißgebadet die ersten Hexameter produziert habe. Zwar verwendete er dabei Wörterbücher und Sekundärliteratur, verglich auch gelegentlich seine Übersetzung mit der deutschen, und befragte den Althistoriker Barthold Georg Niebuhr, der als Garant der Genauigkeit dienen sollte. Doch geschah das Ganze in einem tranceartigen Zustand, der einem furor poeticus gleichkam. Begeisterung und Präzision schließen sich für Baggesen nicht aus, sie hängen vielmehr zusammen. So gelangen ihm Verse, die sowohl wörtlich als auch in klanglicher Hinsicht dem griechischen Original (aufgrund von Alliterationen) sehr ähnlich waren.
24Als Schriftsteller-Übersetzer legitimiert Jens Baggesen sein kreatives Übersetzungsverfahren mit ähnlichen Mitteln wie seinen Kosmopolitismus: durch die Begeisterung als Ergriffensein durch den Genius der Sprache, aus der man übersetzt, und der Sprache, in die man übersetzt. Das Irrationale des Inspirationsmoments rechtfertigt darüber hinaus auch sein Gefühl der Zugehörigkeit zu mehreren Sprachen und Kulturen, das er „sich hineinübersetzen“ nannte.
25Lilas Imbaud — Um jetzt von den Übersetzungen aus dem Lateinischen/Griechischen ins Dänische zu seinen Deutsch-Dänischen Übersetzungen überzugehen, zitieren Sie in Ihrem Kapitel ein ganz spannendes Beispiel von (Rück-)Übersetzung bzw. Aneignung des Werks anderer: In einer Note zu seiner Andachtshymne. Auf der Spitze des Gotthards erläutert Baggesen die Genesis seines Werks, und erklärt, er habe zunächst in Kopenhagen auf die Bitte eines Freundes das „Allgemeine Gebet“ von Karl Wilhelm Ramler (1725-1798) aus dem Deutschen ins Dänische übertragen; lange danach hätte er die dänische Fassung unter seinen Papieren wiedergefunden, verändert, und in eine eigene (dänische) Sammlung aufgenommen; später noch habe er das Gedicht ins Deutsche zurückübersetzt, und sich erst danach erinnert, es sei ursprünglich eine Übersetzung gewesen. Was sagt uns dieses Verfahren zu Baggesensübersetzerischer Praxis?
26Sie zitieren den Anfang des Gedichts:
AllgemeinesGebet (Ramler) |
Andagtshymne (Andachtshymne) (Baggesen) |
Andachtshymne. Auf der Spitze des Gotthards (Baggesen) |
Zu dir entfliegt mein Gesang, o ewige Quelle des Lebens! |
Dig alt Levendes Væld, dig, Aandernes evige Kilde, |
Dich, des Lebenden Born, der Geister verborgener Urquell, |
27Welche Unterschiede fallen da besonders auf? Und geht Baggesen anders vor, wenn er sich selbst übersetzt?
28Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann— Tatsächlich ist der Fall spektakulär, denn er verdeutlicht Baggesens Vorstellungen über die aneignende Funktion der Übersetzung. Seine dänische Übersetzung und seine Neuverdeutschung sind deutlich länger als Ramlers Original und voller ergänzender, verdeutlichender und fast synonymischer Füllungen. Ramlers Rhapsodie zählt 19 Verse, während Baggesens dänische Übersetzung 47 und seine deutsche Fassung 56 hat. Der Text expandiert einfach mit jeder Überarbeitung. So wird in der zitierten Passage die deistische Verehrung der Gottheit in mehr Kulturen als im Original angedeutet, die Lobpreisung ist persönlicher und gleichzeitig durch Chöre potenziert, was die Begeisterung steigern sollte. Und während Ramler, in der antiken Tradition der Rhapsodie, kein festes Metrum nutzt, verwendet Baggesen sechshebige Verse; zumeist daktylisch, mit gelegentlichen jambischen Füßen. Seine Übersetzungen klingen rhythmischer, was als Markenzeichen der Begeisterung interpretiert werden kann, aber vielleicht nur der Tatsache geschuldet ist, dass der dänische Text für eine Vertonung bestellt worden war. Dies könnte auch der Grund sein, warum er die dänische Übersetzung in drei Strophen einteilt. In der deutschen Fassung verzichtet er jedoch wieder auf diese im Original Ramlers nicht vorhandene Stropheneinteilung.
29Bemerkenswert ist, dass er bei der Übersetzung aus dem Dänischen ins Deutsche eine etwas größere wörtliche Genauigkeit aufweist, als bei der Übersetzung vom Deutschen ins Dänische. Offenbar war er mit der bereits erfolgten Aneignung der Rhapsodie zufrieden; er sah den Text als seinen eigenen an, weil er vergessen hatte, wie dieser entstanden war. Und da die dänische Fassung seiner Poetik entsprach, nahm er sich im Verhältnis dazu weniger Freiheiten, als in Bezug auf Ramlers Original. Denn Aneignung (und erst danach Wetteifer) scheint ihm wichtig gewesen zu sein. Doch auch, wenn es um seine eigenen Übersetzungen ging, erlaubte er sich viele kreative Freiheiten, nicht zuletzt, wenn diese als Improvisationen zu geselligen Zwecken entstanden.
30Lilas Imbaud — Würden Sie dieses Beispiel als typisch für Baggesens übersetzerische Tätigkeit beschreiben?
31Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann — Man erkennt hier seine Zugehörigkeit zur Empfindsamkeit, die seine Übersetzungen im Allgemeinen kennzeichnete. Die Begeisterung als Legitimation der Kreativität prägte in allen Fällen das Selbstverständnis Baggesens als Grenzgänger zwischen den Sprachen und Kulturen, als Autor-Übersetzer, der auf die Wirkung des Textes in der Zielsprache setzte, aber gleichzeitig seine Zugehörigkeit zu mehreren Sprachen und Kulturen betonte. Das freie Verfügen über den übersetzten Text, dessen Aneignung, wurde von ihm durch ein kongeniales, höheres, emphatisches Verständnis des Ausgangstextes rechtfertigt.